Idstein/Frankfurt am Main – Nach rund 15 Sekunden unterbricht ein Arzt in Deutschland erstmals den Patienten im Erstgespräch. Zur Vertrauensförderung wäre es aber nötig, dass der Betroffene eine störungsfreie Minute Zeit hat, um über sich und sein Leiden zu sprechen. „Vertrauen ist das wichtigste Werkzeug des Arztes oder Therapeuten“, sagt Prof. Dr. Kirsten Bodusch-Bechstein, stellvertretende Studiendekanin für den Studiengang Physician Assistance an der Hochschule Fresenius. Am 13. Juli erhielt sie ihre Professur und beleuchtete in ihrer Antrittsvorlesung das Thema „Mensch und Medizin – eine Beziehung im Wandel“. Daraus wurde ein Plädoyer für die Rückkehr zum längeren – und vertrauensbildenden – Erstgespräch und der umfassenden Anamnese, als Basis für die so oft beschriebene „patientenorientierte Medizin der Zukunft“. Sie nimmt Bezug auf eine britische Studie und berichtet, dass die Anamnese 75 Prozent der Informationen liefert, die für Diagnose und Behandlung nötig sind. Nur etwa zehn Prozent kommen danach von der körperlichen Untersuchung. „Das ist der Punkt, an dem der Arzt zuhört und Bedenken berücksichtigt, Verständnis zeigt, das weitere Vorgehen plausibel macht und den Patienten für sich und seine Methode einnimmt.“ Eine Chance, die in der Realität allzu oft verspielt wird.
Und dies trotz aller Modelle, die erdacht wurden, um das Verhältnis zwischen Arzt und Patient den heutigen Verhältnissen anzupassen. Der Patient ist heute mündiger, hat wesentlich mehr Informationsquellen, auf die er praktisch überall schnell zugreifen kann. Ist er deshalb gleich ein „Kunde“ und der Arzt ein „Dienstleister“ – das Krankenhaus ein „Profitcenter“? Ein Modell, das laut Bodusch-Bechstein keineswegs passt: Aus dem Vertrauensverhältnis wird ein reines Vertragsverhältnis mit einklagbaren Ansprüchen, der Fokus verschiebt sich vom Ziel des Heilens auf die Dienstleistung des Behandelns.
„Wie soll der Patient außerdem in diesem Verhältnis sein Recht auf Konsumverzicht ausüben?“, fragt sie und verweist auch darauf, dass der „Kunde“ in dem meisten Fällen gar nicht wisse, was die „Dienstleistung“ eigentlich kosten soll. Ideal wäre sicherlich ein partnerschaftliches Verhältnis, in dem die Entscheidung über die richtige Therapieform gemeinschaftlich fällt. Davon entferne sich die heutige Gesellschaft aber immer mehr, wenn auf der einen Seite schon das Zuhören schwerfällt – auf der anderen Seite aber auch mancher Patient meint, es doch eigentlich besser zu wissen und nicht immer realistische Anforderungen an den Arzt stellt. Dem steht auch die „Flatrate-Mentalität“ gegenüber: „Durchschnittlich geht der Deutsche pro Jahr 18-mal zum Arzt“, so Bodusch-Bechstein. „Das ist eine hohe Zahl, in anderen europäischen Ländern sind eher vier bis fünf Besuche Standard.“
Zurück zu den Wurzeln?
Also doch zurück zum paternalistischen Modell? Der Arzt fungiert hier in der Rolle als Wissender, der Patient nimmt eine eher passive Rolle ein, in der er macht, was sein Gegenüber ihm empfiehlt. Eigentlich gilt das doch als überholt und stammt aus einer Zeit, als der Patient eben noch nichts oder nicht viel wusste und sich nicht schnell mal eben informieren konnte. „Interessanterweise wünschen sich viele Patienten aber genau dieses Modell“, berichtet Bodusch-Bechstein. Sie bringt aber auch direkt die zwingende Voraussetzung dafür mit ins Spiel: „Wenn sie ihrem Arzt vertrauen und das Gefühl haben, dass dieser sie und ihren Körper genau kennt und sie als Individuum betrachtet.“ Der Begriff „Arzt des Vertrauens“ gewinnt seine ureigene Bedeutung zurück. „Wir müssen demnach erreichen, dass junge Menschen schon während des Studiums nicht nur theoretisches Fachwissen über mögliche Erkrankungen lernen und später gut operieren können, sondern auch empathische Fähigkeiten entwickeln und mit dem Bewusstsein in den Beruf gehen, dass im Dreiklang zwischen Diagnose, Therapie und Prognose jeder Mensch eigene Voraussetzungen mitbringt. Nur so werden wir das ambitionierte Ziel einer patientenorientierten Medizin erreichen können.“
Über die Hochschule Fresenius
Die Hochschule Fresenius gehört mit rund 10.000 Studierenden und Berufsfachschülern zu den größten und renommiertesten privaten Hochschulen in Deutschland. 1848 als „Chemisches Laboratorium Fresenius“ gegründet und seit 1971 als staatlich anerkannte Fachhochschule in privater Trägerschaft zugelassen, unterhält die Hochschule Fresenius heute Standorte in Idstein, Köln, Hamburg, München, Frankfurt am Main und Berlin sowie Studienzentren in Düsseldorf und Zwickau. 2010 erfolgte die institutionelle Akkreditierung durch den Wissenschaftsrat. In den Fachbereichen Chemie & Biologie, Gesundheit & Soziales, Wirtschaft & Medien sowie Design können hier Ausbildungs-, Studien- und Weiterbildungsangebote wahrgenommen werden. Neben Bachelor- und Masterprogrammen in Vollzeit bieten die vier Fachbereiche mit ihren sieben Schools auch berufsbegleitende und ausbildungsbegleitende (duale) Studiengänge an.
Die Hochschule Fresenius setzt auf eine enge Einheit von Forschung, Lehre und Praxis und forscht in den Fachbereichen Chemie & Biologie (Institute for Analytical Research), Gesundheit & Soziales (Institut für komplexe Gesundheitsforschung), Wirtschaft & Medien (Institut für Gesundheitswirtschaft, Medienmanagement Institut, Institut für Energiewirtschaft) sowie Design. Mehr Informationen unter: www.hs-fresenius.de