Kopenhagen – Nach einem heute veröffentlichten Surveillance-Bericht ist die HIV-Epidemie immer noch nicht unter Kontrolle. So wurden im Jahr 2010 in der Europäischen Region 118 000 HIV-Fälle diagnostiziert; dies geht aus neuen Daten aus 51 der 53 Mitgliedstaaten der WHO in der Europäischen Region hervor, die heute vom WHO-Regionalbüro für Europa und dem Europäischen Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) veröffentlicht wurden. Über drei Viertel der neu gemeldeten Infektionen entfielen auf den östlichen Teil der Region.
Seit 2001 hat sich die Gesamtzahl der gemeldeten HIV-Infektionen in der Europäischen Region um den Faktor 2,5 erhöht. Laut dem Bericht HIV/Aids-Surveillance in der Europäischen Region 2010 wurden dem WHO-Regionalbüro für Europa und dem ECDC bis Ende 2010 insgesamt 712 477 HIV-Infektionen gemeldet. Darüber hinaus wurden in der Russischen Föderation mindestens 500 000 HIV-Fälle, und in Ländern, die für HIV über keine älteren epidemiologischen Daten als aus dem Zeitraum 20022004 verfügen (Frankreich, Italien, Spanien), knapp 180 000 Aids-Fälle diagnostiziert. Somit muss die kumulative Gesamtzahl der HIV-Diagnosen in der Europäischen Region auf über 1,4 Mio. korrigiert werden.
Angesichts dieses besorgniserregenden Anstiegs nahmen die 53 Mitgliedstaaten den neuen Europäischen Aktionsplan HIV/Aids (20122015) an, der ebenfalls heute veröffentlicht wird.
“Die bisherigen Maßnahmen zur Senkung der HIV-Neuinfektionsrate reichen nicht aus, um die HIV-Epidemie in der Region wirksam zu bekämpfen und eine Trendumkehr herbeizuführen. In Zukunft gilt es vor allem diejenigen zu erreichen, die am stärksten gefährdet sind, da sie oft stigmatisiert und von der Gesundheitsversorgung und anderen sozialen Angeboten ausgeschlossen sind und somit keinen Zugang zur HIV-Therapie haben. Deshalb freue ich mich außerordentlich, dass die Länder der Europäischen Region sich zu dem Europäischen Aktionsplan HIV/Aids bekennen, in dem diese Probleme thematisiert und umfassende Lösungen aufgezeigt werden. Jetzt ist es an der Zeit, alle maßgeblichen Akteure inner- wie auch außerhalb des Gesundheitssektors, und insbesondere die Regierungen und die Zivilgesellschaft, zum Handeln zu veranlassen”, erklärt Zsuzsanna Jakab, WHO-Regionaldirektorin für Europa.
Auch wenn die Hauptübertragungswege für HIV von Land zu Land verschieden sind, so sind doch in allen Ländern der Europäischen Region bestimmte soziale Randgruppen (z. B. Migranten), aber auch Personen, deren Verhalten gesellschaftlich stigmatisiert wird (z. B. Männer mit gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten) oder gesetzeswidrig ist (z. B. injizierende Drogenkonsumenten), unverhältnismäßig stark betroffen. Die neuen Daten bestätigen, dass die HIV-Epidemie in der Europäischen Region weiterhin in diesen Bevölkerungsgruppen gehäuft auftritt.
In den Ländern Osteuropas und Zentralasiens entfielen 43% der im Jahr 2010 gemeldeten Fälle auf injizierende Drogenkonsumenten knapp weniger als die 48%, die sich durch heterosexuellen Kontakt infizierten. In den letzten Jahren haben die Länder im östlichen Teil der Region einen Anstieg des Anteils heterosexuell übertragener HIV-Infektionen erlebt, der wahrscheinlich auf sexuelle Übertragung durch injizierende Drogenkonsumenten zurückzuführen ist. Der Anteil der Fälle unter Männern mit gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten ist gering und weist vermutlich erhebliche Meldelücken auf.
Im westlichen Teil der Region tritt die Epidemie nach wie vor unter Männern mit gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten (39% der neu diagnostizierten Fälle im Jahr 2010) sowie unter Migranten aus Ländern mit einer generalisierten HIV-Epidemie (mindestens ein Drittel der heterosexuell übertragenen Infektionen) gehäuft auf.
“Gemeinsame Maßnahmen des Regionalbüros und des ECDC zur Erfassung und Analyse von Daten über die HIV-Epidemie in Europa haben einmal mehr zu entscheidend wichtigen Erkenntnissen für Gegenmaßnahmen in den Ländern und in der Region insgesamt geführt. Die Kooperation, wie wir sie seit 2008 fördern, wurde Jahr für Jahr intensiviert, und die Tatsache, dass wir von mehr Ländern als je zuvor Berichte erhalten, verdeutlicht diesen Erfolg”, sagt Marc Sprenger, der Leiter des ECDC.
Meldelücken bei HIV
Aufgrund des mangelnden Zugangs zu HIV-Tests und dazugehörigen Beratungsangeboten und deren geringer Inanspruchnahme, insbesondere in den Hauptrisikogruppen in Bezug auf Infektion und Übertragung, werden nicht alle Fälle in der Europäischen Region diagnostiziert. In den Ländern Osteuropas und Zentralasiens, die der WHO im Zeitraum 2008-2010 Daten über Fortschritte bei der Verwirklichung eines allgemeinen Zugangs zur Prävention von HIV/Aids und zur Behandlung bzw. Betreuung der Betroffenen übermittelten, hatten sich weniger als die Hälfte aller Prostituierten und nur ein Drittel der Männer mit gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten und der injizierenden Drogenkonsumenten in den vorausgegangenen zwölf Monaten einem HIV-Test unterzogen und kannten dessen Resultat.
Aus dem Fortschrittsbericht 2011 mit dem Titel “Globale Maßnahmen zur Bekämpfung von HIV/Aids – Lagebericht zur Epidemie und Fortschritte im Gesundheitswesen bei der Verwirklichung eines allgemeinen Zugangs, der heute von der WHO, dem Gemeinsamen Programm der Vereinten Nationen für HIV/Aids (UNAIDS) und dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) veröffentlicht wird, geht hervor, dass die gemeldeten Fälle wahrscheinlich weniger als die Hälfte aller mit HIV lebenden Menschen in der Region sind. Diese Gruppe wurde für 2010 auf 1,5 Mio. Menschen (Bandbreite: 1,31,7 Mio.) in Osteuropa und Zentralasien geschätzt, darunter 160 000 (Bandbreite: 110 000200 000), die sich während des Jahres infiziert haben. Während die HIV-Epidemie in anderen Regionen, wie etwa Afrika südlich der Sahara, Karibik und Südostasien, offenbar stagniert bzw. rückläufig ist, breitet sie sich in der Europäischen Region weiterhin mit alarmierender und zunehmender Geschwindigkeit aus.
In Osteuropa und Zentralasien stieg die geschätzte Zahl der Personen, die an HIV-bedingten Ursachen starben, zwischen 2001 und 2010 um mehr als den Faktor 11: von 7800 (Bandbreite: 600011 000) auf 90 000 (Bandbreite: 74 000110 000). Anders als in den meisten anderen Regionen nimmt die Zahl der durch Aids bedingten Todesfälle in diesen Ländern weiter zu.
Begrenzter Zugang zur Therapie
Die größte Herausforderung bei der Bekämpfung von HIV in der Europäischen Region besteht darin, den Zugang zu einer lebensrettenden Therapie zu verbessern. Dies gilt insbesondere für die Länder Osteuropas und Zentralasiens, wo im Jahr 2010 nach Schätzungen nur 23% der Behandlungsbedürftigen eine antiretrovirale Therapie erhielten. Damit lagen sie deutlich unter dem weltweiten Durchschnitt von 47% für die Länder mit niedrigem bis mittlerem Einkommen. Die neuen Daten aus dem Fortschrittsbericht 2011 enthüllen schreiende Ungleichheiten in Bezug auf den Zugang zur Therapie, insbesondere für die am stärksten Betroffenen. So waren 62% der insgesamt gemeldeten HIV-Fälle mit bekanntem Übertragungsweg injizierende Drogenkonsumenten, doch machte diese Gruppe nur 22% derjenigen aus, die eine antiretrovirale Therapie erhielten.
Mutter-Kind-Übertragung
Auch wenn sich die HIV-Epidemie in der Europäischen Region weiter mit alarmierender Geschwindigkeit ausbreitet und die Behandlung nicht mit den Neuinfektionen Schritt hält, so gibt es doch auch Gründe zur Zuversicht. Bei der Verringerung der Mutter-Kind-Übertragung konnte die Europäische Region im Jahr 2010 für HIV-positive Schwangere eine Versorgungsrate von 88% vorweisen, die die Zielvorgabe der Vereinten Nationen (1) (80%) und den weltweiten Durchschnitt für Länder mit niedrigem bis mittlerem Einkommen (59%) übertraf.
Europäischer Aktionsplan
Der neue Europäische Aktionsplan HIV/Aids (20122015), der im September 2011 von den 53 Ländern der Europäischen Region der WHO angenommen wurde und heute offiziell verkündet wird, ist ein dringender Handlungsappell in Bezug auf diese Herausforderung für die Gesundheitspolitik.
“Diese dramatische Zunahme der HIV-Fälle wäre weniger beunruhigend, wenn wir wüssten, dass die Länder ihre Gegenmaßnahmen intensivieren, kommentiert Martin Donoghoe, Leiter des Programms für HIV/Aids, sexuell übertragene Infektionen und virale Hepatitis beim WHO-Regionalbüro für Europa. In einigen Ländern, insbesondere im östlichen Teil der Europäischen Region, müssen evidenzbasierte Maßnahmen zur Zurückdrängung der Epidemie erst noch eingeführt bzw. verstärkt werden. Der Europäische Aktionsplan enthält einen ausgezeichneten Fahrplan für nationale Strategien und Handlungskonzepte.”