Berlin – Jens Spahn will noch in diesem Jahr konkretisieren, mit welchen Instrumenten die Politik die europäische Produktion von Wirkstoffen und Arzneimitteln stärken kann. Das gab er auf der Digitalkonferenz „Für ein gesundes Europa“ bekannt. Bis November rechne er mit konkreten Vorschlägen der EU-Kommission, eine Positionierung des EU-Rats will er am liebsten im Dezember erreicht haben. „Ich pushe das Thema auf europäischer Ebene“, so Spahn sehr deutlich, „wenn es sein muss, auch in einer Nachtsitzung“.
Auf der Veranstaltung, die Teil des assoziierten Programms der deutschen EU-Ratspräsidentschaft war, diskutierten Vertreter von Politik, Industrie, Behörden, Krankenkassen und Patienten über eine Stärkung von Versorgungssicherheit und Arzneimittelproduktion in Europa. Sowohl Spahn als auch der EU-Binnenmarkt-Kommissar Thierry Breton betonten vor bis zu 1.400 Zuschauern aus rund 20 Ländern die Gefahr einer zu großen Abhängigkeit von China. Daraus resultiere, so sagten es beide, die Notwendigkeit für Europa – zumindest bei kritischen Wirkstoffen – wieder unabhängiger zu werden.
Spahn machte deutlich, dass eine stabilere Versorgung mehr Diversität in den Lieferketten brauche. Es sei zu erarbeiten „mit welchen Instrumenten wir die Produktion und Versorgung hier in Europa wieder anreizen können.“ Ein Weg könnten Investitionszuschüsse sein und das Vergaberecht könne angepasst werden. Ein weiterer könne es sein, in der Anfangszeit garantierte Abgabepreise als Anreiz für die Hersteller zu gewähren.
Zuvor hatte Wolfgang Späth, Vorstandsvorsitzender von Pro Generika e.V., die Dringlichkeit des Themas deutlich unterstrichen. Zwar sei es in Deutschland auf dem Höhepunkt der ersten Covid-19-Welle nicht zu Versorgungsengpässen gekommen. „Das aber war ein beispielloser Kraftakt vor allem der Generikaunternehmen“, so Späth. „Wir dürfen das nicht als Blaupause nehmen und uns darauf verlassen, dass auch beim nächsten Mal alles gut geht.“
Als Präsident des europäischen Generika-Verbandes Medicines for Europe forderte Christoph Stoller konkrete Maßnahmen ein: „Wir brauchen ein neues Preissystem für Generika“, sagte er. „Es darf nicht mehr nur um den günstigsten Preis gehen. Vielmehr müssen Investitionen, die die Versorgungssicherheit erhöhen – wie etwa eine zweite Wirkstoffquelle oder ein Produktionsstandort in Europa – honoriert werden“.
Das Thema Versorgungssicherheit stand auch im Fokus, als Dr. Andreas Meiser von MundiCare die Pro Generika-Wirkstoffstudie vorstellte. Diese belegt erstmals die Abwanderung der Wirkstoffherstellung von Europa nach Asien. Meiser: „Die europäische Versorgung ist heute in hohem Maße abhängig – von nur wenigen Wirkstoffherstellern in sehr kleinen Teilen der Welt. Das birgt Risiken für die Versorgung.“
Ana Marti vom spanischen Wirkstoffhersteller Medichem war als Vertreterin der europäischen Wirkstoffhersteller geladen. Sie unterstrich das Potenzial ihrer Branche in Europa und gab an, noch freie Kapazitäten zu haben. „Wir Wirkstoffhersteller brauchen vor allem mehr regulatorische Flexibilität“, sagte Marti. Gerade wenn es um die Genehmigung von Produktionsanlagen gehe, seien andere Weltregionen deutlich schneller. Deshalb sei ein Großteil der Wirkstoffherstellung nach Asien abgewandert.
Mit Blick auf die Politik, die europäische Arzneimittelhersteller stärken will, unterstrich Dr. Christian Pawlu, Global Head of Strategy, Portfolio and Business Development bei Sandoz International GmbH, die Relevanz eines echten Wettbewerbs. Sein Unternehmen hatte bekanntgegeben, 150 Millionen Euro in den Erhalt des Antibiotika-Werkes in Österreich zu investieren. Sandoz bekommt dafür staatliche Zuschüsse in Höhe von 50 Millionen Euro. Pawlu: „Wir brauchen keine Zombie-Industrie. Staatliche Hilfen seien sinnvoll, wenn sie ein Unternehmen in die Lage versetzten, wieder voll wettbewerbsfähig zu produzieren. Dafür aber müsse das Verhältnis zwischen Preisgestaltung und Erstattung langfristig stimmen.“
Einen Ausblick auf die nächsten politischen Schritte gab der EU-Kommissar für den Binnenmarkt Thierry Breton. „Eine groß angelegte Rückverlagerung der Produktion wird es nicht geben“, sagte er. „Aber wir sind in unseren Lieferketten zu abhängig von anderen Ländern und das ist inakzeptabel.“ Im Folgenden müsse geprüft werden, wo Lieferketten korrigiert und diversifiziert werden müssten. Außerdem sei zu schauen, welche kritischen Wirkstoffe wieder verstärkt in Europa produziert werden sollten. Zuvor hatte eine Abstimmung unter den Teilnehmern der Konferenz ergeben, dass es 73 Prozent für angemessen halten, wenn die Politik die europäische Arzneimittelproduktion unterstützt.
Bork Bretthauer, Geschäftsführer, Pro Generika e.V. lenkte den Blick auf die „Pharmaceutical Strategy“, die die Europäische Kommission noch in diesem Jahr vorstellen will. Sein Appell ging an die deutsche Politik. „Wir dürfen nicht warten, was Brüssel tut“, sagte Bretthauer. „Versorgungssicherheit ist ein Thema, das nicht warten kann“. Jetzt bräuchte Deutschland Politiker, die den Mut hätten, nach vorne zu gehen. Deutschland hätte gezeigt, dass es gut sei im Management von Lieferengpässen. „Jetzt müssen wir gut werden darin, die Probleme bei den Wurzeln zu packen.“
Die Digitalkonferenz „Für ein gesundes Europa“ fand im Hybridformat statt und wurde von FAZ-Konferenzen organisiert. Die Aufzeichnung der gesamten Veranstaltung sehen Sie auf dem Pro Generika-YouTube-Kanal. Die Zusammenfassung der wichtigsten Beiträge lesen Sie hier.