Bielefeld – Nach mehrmonatiger Behandlung in der Klinik für Kinderchirurgie des Evangelischen Klinikums Bethel (EvKB) kehren zwei Jungen aus Afghanistan bald zurück zu ihren Eltern.
Abdullas dunkle Kinderaugen leuchten. Die Vorfreude. Nur noch ein paar Tage für „etwas Feintuning“, wie Chefarzt Dr. Michael Barthel sagt, dann werden er und sein Freund Mansor aus der Obhut des Kinderzentrums am EvKB entlassen. Die beiden Jungen aus Afghanistan werden noch ein Weilchen bei ihren deutschen Gastfamilien bleiben und dann geht es zurück nach Afghanistan, zurück zu Aaba (Papa) und Mama und zu ihren Geschwistern. Die werden staunen, denn Abdullah kann zum ersten Mal in seinem Leben laufen und Mansor tobt nach einem komplizierten Oberschenkelbruch endlich wieder fröhlich herum.
Die beiden Jungen sind durch die Vermittlung des Vereins „Kinder brauchen uns“ zur medizinischen Behandlung nach Deutschland gekommen. Vorstandsmitglied Mirvais Karzai schildert, wie ehrenamtliche Mitarbeiter seit 2003 zusammen mit den dortigen Ärzten insgesamt 641 kleine Patienten im Kinderkrankenhaus in Kabul ausgewählt und Krankenhäuser in Deutschland für deren Behandlung gesucht haben. Den Kontakt zum EvKB, das die Behandlungskosten trägt, hat Dr. Klaus Kobert, Leiter der Klinischen Ethik, hergestellt.
Die erfolgreiche Behandlung in der Klinik für Kinderchirurgie hat einige Monate in Anspruch genommen. Die beiden Neunjährigen waren alles andere als unkomplizierte Fälle. Abdullah leidet an einer angeborenen Störung, die die Knochen weich macht. Als sein Oberschenkel schon als Kleinkind brach und nicht heilen wollte, hat sich ein Falschgelenk gebildet, das Bein konnte nicht wachsen. Der jetzt Neunjährige ist in seinem ganzen Leben nicht gelaufen, sondern nur gekrochen oder musste von Eltern oder Geschwistern getragen werden. Für die Kinderchirurgen eine Herausforderung, denn, so Michael Barthel, „das hätte auch schiefgehen, mit einer Amputation enden können.“ Es ist aber alles gut ausgegangen, auch wenn die Ärzte an der Grundstörung, den weichen Knochen, nichts ändern können. „Aber“, so der Chefchirurg, „das spezielle Problem haben wir beseitigt und Abdullah auf zwei Beine gestellt“.
Auch Mansor litt unter einem Bruch des Oberschenkels. Der war in Kabul im Indira-Gandhi-Krankenhaus, dem einzigen Kinderkrankenhaus in Afghanistan von außen fixiert worden. Leider mit einer schweren Knochenvereiterung als Komplikation. Ans Gehen war nicht zu denken. Mit einer hochdosierten Antibiose hat das Team der Kinderchirurgie den Schaden in den Griff bekommen, gleich noch eine Fehlstellung im Knie mitbehandelt und Mansor mobilisiert, so dass er jetzt wieder richtig laufen kann. Ein weiteres halbes Jahr wird er noch Medikamente nehmen müssen, dann hat er die Chance, wieder ganz gesund zu werden.
Im Kinderzentrum haben die beiden Jungs ein eigenes Zimmer, „ein gemeinsames Bettenlager“ bekommen. Sie konnten sich von Anfang an verständigen, was nicht selbstverständlich ist: In Afghanistan werden mehrere Sprachen gesprochen. Beide Jungen sprechen Paschtu, und mittlerweile verstehen sie wohl auch ganz gut Deutsch. Das Herz des Teams von Assistenzärztinnen, Kinderkrankenpflegerinnen und –pflegern haben die beiden Charmebolzen, so Dr. Barthel, zudem im Sturm erobert. So haben die Jungs u. a. verschiedene Spielplätze und den Tierpark Olderdissen kennengelernt.
Wenn sie nicht in der Klinik behandelt wurden, haben Abdulla und Mansor sieben Monate lang in Familien gelebt: „Meine eigenen vier Kinder sind alle aus dem Haus, jetzt haben wir Mansor“, sagt Tanir Belgteli. „Es wird sehr schwer für uns werden, wenn wir uns von ihnen trennen müssen“, fürchtet die Gastmutter. Abdulla lebt in der Familie von Emilia Öztas zusammen mit zwei Geschwistern auf Zeit. Beide Frauen, deren mütterlich positiver Ausstrahlung man sich kaum entziehen kann, haben die Kinder aus Überzeugung in ihre Familien aufgenommen, für sie ist es „etwas Schönes“ und sie wollen bewusst „etwas Gutes tun“. Abdulla hilft jetzt schon im Haushalt mit und bringt seine Gastmutter zum Weinen, wenn er erzählt, dass es zu Hause manchmal nichts zu essen gab und „das Brot immer hart war“.
Dr. Michael Barthel ist voller Lob über die Arbeit und das Engagement des kleinen Vereins und der Gastfamilien. „Die persönlichen Kontakte, die kurzen Wege, die Qualität der Informationen, das alles sind Faktoren, die für den Heilerfolg wichtig waren“, sagt der Klinikchef. Die Arbeit des Vereins, der sich aus Spenden finanziert, ist derzeit praktisch unterbrochen worden, beklagt Karzai. Seit dem Anschlag im Mai ist die deutsche Botschaft in Kabul geschlossen, für die Erteilung von Visa sind die Botschaften in Neu-Delhi oder Islamabad zuständig. Den dafür notwendigen bürokratischen Aufwand kann der Verein nicht stemmen. Eltern und Kinder im Indira-Gandhi-Krankenhaus in Kabul warten und hoffen auf eine Lösung. Aktuellen Zahlen der UNO zufolge sind 2016 im Afghanistan-Krieg 3.512 Kinder getötet oder verletzt worden – so viele wie nie zuvor.
Nun heißt es bald Abschied nehmen. Natürlich freuen sich die Kinder darauf, nach Hause zu kommen. In Telefongesprächen kann Abdullas Mutter kaum glauben, dass der Kleine laufen kann, für sie ist es ein Wunder.
Darüber machen sich Jungs aber keine Gedanken. Abdulla wird weiter üben, auf seinen Krücken zu laufen und Mansor kann endlich wieder mit anderen Jungen seinen Drachen steigen lassen.