Berlin – In Deutschland ist das Risiko, an einem Herzinfarkt zu sterben, immer noch höher als in vielen anderen europäischen Ländern. Auch wenn sich die Versorgung herzkranker Menschen in den vergangenen Jahrzehnten herausragend verbessert hat, gibt es noch Defizite in der Prävention, der Notfallversorgung und in der Betreuung von Risikopatienten. Zu diesem Fazit kommen die Autoren des „Weißbuch Herz – Versorgung des Akuten Koronarsyndroms in Deutschland“, das heute in Berlin vorgestellt wurde.
Das Weißbuch Herz ist eine in seiner Form erstmalige Bestandsaufnahme der Versorgung lebensbedrohlich kranker Menschen mit Akutem Koronarsyndrom (ACS), zu dem auch der Herzinfarkt zählt. Wissenschaftler des IGES Instituts haben es in Zusammenarbeit mit namhaften Experten erstellt.
Der Herzinfarkt ist immer noch Todesursache Nummer 2 der Deutschen, auch wenn sich die Sterberate in den vergangenen zehn Jahren um rund 37 Prozent verringert hat. „Zielgerichtete Verbesserungen bei der Versorgung haben zu einem enormen Rückgang der Sterblichkeit an Herzinfarkt geführt. Bei dieser Entwicklung hinkt Deutschland im europäischen Vergleich allerdings stark hinterher“, sagt Prof. Bertram Häussler, Leiter des IGES Instituts.
Mehr Aufklärung über richtiges Notfallverhalten nötig
„Die Herzinfarkt-Sterblichkeit könnte noch weiter gesenkt werden, wenn die für das Überleben entscheidende Zeit zwischen Symptombeginn und der Akutbehandlung in einem geeigneten Krankenhaus verkürzt werden könnte“, sagt der Weißbuch-Autor und Leiter des Bereichs Versorgungsforschung am IGES Institut, Hans-Holger Bleß. “Mehr Aufklärung in der Bevölkerung über die Symptome eines Herzinfarktes und das sofortige Alarmieren eines Rettungswagens sind nötig.”
Defizite in der Langzeitbetreuung von ACS-Patienten
Fortschritte hat es in der akuten Behandlung des ACS gegeben. Goldstandard ist eine Herzkatheteruntersuchung mit daran gekoppelter Behandlung (medizinisch: perkutane Koronarintervention, PCI), die immer mehr Herzinfarkt-Patienten erhalten: Bei Patienten mit einem schweren Herzinfarkt, einem sogenannten ST-Streckenhebungsinfarkt (STEMI), liegt die Quote inzwischen sogar bei über 90 Prozent. „Die Daten zeigen, dass die Behandlung des akuten Herzinfarkts zunehmend leitliniengerecht erfolgt“, sagt Prof. Uwe Zeymer, Leitender Oberarzt am Klinikum der Stadt Ludwigshafen und Weißbuch-Experte.
Defizite konstatiert das „Weißbuch Herz“ aber weiterhin in der langfristigen medikamentösen Behandlung ACS-Kranker. Diese ist essenziell, um Folgekomplikationen wie einen weiteren Herzinfarkt zu verhindern. Zum Einsatz kommen Mittel zur Blutverdünnung, gegen Bluthochdruck und Fettstoffwechselstörungen. Bekommen noch 60 bis 90 Prozent der Betroffenen 90 Tage nach einem ACS-Krankenhausaufenthalt entsprechende Medikamente verordnet, sind es fünf Jahre danach nur noch rund ein Drittel. „Wir sehen einen Trend zur leitlinienkonformen Langzeittherapie bei ACS. Es gibt aber Defizite vor allem bei älteren Patienten und bei der Kontinuität der Therapie“, so Bleß.
Von Herzinfarkt-Patienten, die die Zeit des Krankenhausaufenthaltes überleben, stirbt jeder Fünfte innerhalb von fünf Jahren. Zeymer: „Die Versorgung der ACS-Patienten sollte sektorenübergreifend von Klinik und ambulantem Bereich erfolgen. Hierzu sind Patientenleitpfade zur Optimierung der medikamentösen und nicht-medikamentösen Sekundärprävention sinnvoll, um die Prognose der ACS-Patienten weiter zu verbessern.“
Herzinfarkte zu verhindern, heißt Gesundheitsausgaben zu senken
Rund 1,85 Milliarden Euro kostet die Herzinfarktbehandlung in Deutschland (2008). 70 Prozent der Kosten entstehen dabei im Krankenhaus, im Durchschnitt mehr als 6.000 Euro pro Patient. Auffällig ist die überproportionale Zunahme der Herzinfarktkosten: Stiegen die generellen Kosten aller Krankheiten zwischen 2002 und 2008 um 16 Prozent, waren es für den Herzinfarkt 74 Prozent. Der Kostenanstieg wird vor allem durch die stark gestiegenen Kosten für Über-65-Jährige verursacht.
Risikofaktoren für ACS sind wie bei allen Herz-Kreislauferkrankungen Diabetes, Bluthochdruck oder erhöhte Blutfettwerte, die maßgeblich durch den eigenen Lebensstil und wenn erforderlich durch die richtige Medikamenteneinstellung beeinflusst werden können. „Individuelles gesundheitsbewusstes Verhalten gilt es zu stärken. Wir brauchen endlich ein nationales Herz-Kreislauf-Programm“, betont Bleß.
Das „Weißbuch Herz – Versorgung des Akuten Koronarsyndroms in Deutschland“ erscheint (Anfang September) im Georg Thieme Verlag. Es entstand im Auftrag des forschenden Arzneimittelherstellers AstraZeneca.
Über das IGES Institut: Forschen – Entwickeln – Beraten für Infrastruktur und Gesundheit
Das IGES Institut wurde 1980 als unabhängiges Institut gegründet. Seither wurde in über 1.000 Projekten zu Fragen des Zugangs zur Versorgung, ihrer Qualität, der Finanzierung sowie der Gestaltung des Wettbewerbs im Bereich der Gesundheit gearbeitet. In jüngerer Zeit wurde das Spektrum auf weitere Gebiete der öffentlichen Daseinsvorsorge ausgeweitet: Mobilität und Bildung. Das IGES Institut gründet seine Arbeit auf hohe Sach- und Methodenkompetenz und bietet in allen Arbeitsgebieten einen breiten Zugang zu eigenen und zu Datenquellen anderer Institutionen. Gemeinsam mit den Unternehmen CSG und IMC (beide Berlin) sowie HealthEcon (Basel) beschäftigt die IGES Gruppe mehr als 120 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.