München/Echzell – In Deutschland ist ein bedenklicher Trend zu beobachten: Mädchen und Jungs entwickeln immer früher Essstörungen – die Patienten in den Therapieeinrichtungen werden immer jünger, das Durchschnittsalter liegt in vielen Häusern bei etwa 14 Jahren. Die Gründe für diese Ent- wicklung sind vielschichtig: Neben zahlreichen Besser-Esser-Trends wie LowCarb, Paleo, Vegan und „klassischen“ Diäten stehen sowohl Schlankheitsdruck in der Peergroup als auch überengagierte „Helikopter-Eltern“ im Fokus der Faktoren, die Essstörungen auslösen. Andreas Schnebel*, Psychotherapeut und therapeutischer Geschäftsführer einer der größten Therapieeinrichtungen für Essstörungen (ANAD e.V.), Vorstandsmitglied Bundesfachverband Essstörungen und Uwe Knop, Ernährungswissenschaftler und Buchautor zur Kinderernährung** gehen den Ursachen auf den Grund und skizzieren Lösungen für ein gesundes (Ess)Verhalten von Kindern und Jugendlichen, das Essstörungen vorbeugen kann.
Warum entwickeln besonders Mädchen immer früher Essstörungen?
Schnebel: Essstörungen sind multifaktoriell bedingt. Dies bedeutet, dass es nicht nur eine Ursache dafür gibt, sondern ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Ursachen. Neben biologischen, familiären und individuellen Gründen möchte ich besonders auf die soziokulturellen Ursachen hinweisen. Magersucht ist auch ein Abbild der heutigen Gesellschaft. Eine Studie der Weltgesundheitsorganisation belegte bereits 2012, dass sich mehr als die Hälfte der 13- bis 15- jährigen Mädchen zu dick fühlt – und diese Zahl wird meiner Erfahrung zufolge heute wahrscheinlich noch höher liegen. Schlank, sportlich und perfekt zu sein gehört zum Lifestyle. Schon in der Grundschule werden Mädchen auf dem Pausenhof mit Diäten konfrontiert.
Dabei sind gerade Diäten „Einstiegsdroge in Essstörungen“ – können Sie das erklären?
Schnebel: Die Entscheidung, eine Diät zu machen, bedeutet, sich ständig mit dem Thema Nahrungsbeschaffung, Nahrungsaufnahme und Kalorienzählen zu beschäftigen. Nahrungsmittel werden klassifiziert in »erlaubte« und »verbotene« Lebensmittel. Schnell kann eine deutliche Gewichtsabnahme einsetzen. Das kurzfristige Erfolgserlebnis ist groß, langfristig kann die Kontrolle über die Nahrungsaufnahme den gesamten Alltag bestimmen und schon ist der Weg in die Essstörung frei. In meiner Praxis berichten Patientinnen oft: »… und dann nimmst du ab und kannst nicht mehr aufhören…«. Erschwerend kommt hinzu, dass eine Gewichtsabnahme in der Gesellschaft immer wieder bejubelt wird. Eltern warnen ihre Kinder vor Alkohol, Nikotin und Drogen, aber wenn die Tochter eine Diät beginnt, applaudiert oft das soziale Umfeld.
Welche auslösenden Faktoren stehen derzeit noch im Fokus?
Schnebel: Eine große Verantwortung liegt bei den Medien. Sendungen wie beispielsweise »Germanys Next Topmodel« spiegeln ein falsches Körperbild wider. Bedenkt man, dass nur eine von 40.000 Frauen die körperlichen Maße eines Models hat, dann wird klar, welche unrealistischen Botschaften diese Sendungen vermitteln. Neue Körpertrends wie »Bikini-Bridge« oder »Thigh-Gap« verbreiten sich durch die sozialen Medien wie Instagram und YouTube rasend schnell bei den Jugendlichen. Perfektion und Kontrolle, diese Worte sind die ständigen Begleiter der Mädchen auf ihrem Weg in die Essstörung.
Welchen Einfluss hat der Mythos der „Generation dicker Kinder“?
Knop: Die allgegenwärtige Propaganda, dass die Kinder immer dicker werden, macht übervorsichtigen Eltern Angst, auch ihr Kind könne durch „falsche“ Ernährung dick werden. Doch nicht nur diese Furcht vorm falschen Essen ist wissenschaftlich unhaltbar, auch die aktuellen Gewichtsstatistiken offenbaren ein ganz anderes Bild: In Deutschland gelten knapp drei Viertel der Kinder als normalgewichtig und nur 3 bis 8 Prozent, je nach Altersklasse und sozialer Schicht, sind fettleibig. Was die Wenigsten wissen: Mit einer Quote von etwa 10 Prozent untergewichtigen Kindern gibt es sogar mehr dürre als dicke Kids hierzulande (IDEFICS / KiGGS). Die neuesten AOK-Daten aus September dieses Jahres zeigen, dass im Nordosten der Republik der Anteil nicht-fettleibiger Kinder und Jugendlicher bei 94,1 Prozent liegt [1]. Des Weiteren ist etwa seit der Jahrtausendwende kein genereller Anstieg der Quote adipöser Kids zu beobach- ten. Die „Generation fetter Kinder“ ist nicht mehr als eine postfaktische Filterblase – und diese gezielte Desinformation trägt auch noch dazu bei, dass das „gefühlte Übergewicht“ dem Nachwuchs mehr Probleme macht als die tatsächlichen Kilos.
Welche Rolle spielen die „Helikopter-Eltern“?
Schnebel: Eltern haben einen großen Anteil an der Persönlichkeitsentwicklung ihrer Kinder. So genannte „Helikopter-Eltern“ möchten das Leben ihrer Kinder kontrollieren und perfektionieren. Alle Hürden des Lebens werden aus dem Weg geräumt. Natürlich steht dabei die Nahrungsaufnahme ihrer Kinder besonders im Fokus. Die Eltern bestimmen, was, wann und wieviel gegessen werden darf. Es gibt Eltern, die den Eindruck vermitteln, sie würden die Nahrung ihrer Kinder am liebsten noch vorkauen. Dieses zwanghafte Bedürfnis, alles kontrollieren zu müssen, kann unter Umständen bei den Kindern auch in eine Essstörung führen. Kinder müssen auch in puncto Essen ihre eigenen Erfahrungen machen dürfen!
Stichwort „gesunde Ernährung“? Welchen Einfluss haben die zahlreichen Besser-Esser-Stile wie Vegan, LowCarb oder Paleo bei Ihren Patienten?
Schnebel: Junge Menschen scheinen besonders anfällige für neue Food-Trends zu sein. Wie ein Tsunami rollt alle paar Monate ein neuer Trend durch die sozialen Medien. Das Versprechen und die damit verbundene Hoffnung ist immer die Gleiche: schön, schlank, fit, gesund und dann auch noch umweltkompatibel. Diese Versprechen scheinen jedoch allesamt sehr fragwürdig.
Existieren wissenschaftliche Beweise für „gesunde Ernährung“ und Besser-Esser-Trends?
Knop: Ganz klar – Nein. Es gibt weder Beweise für gesunde Lebensmittel noch für ungesunde Ernährung – ganz zu schweigen davon, dass vegan, paleo oder LowCarb gesünder und schlanker machen. Alles frei erfunden. Ernährungsstudien sind extrem limitiert in ihrer Aussagekraft, sodass man klar konstatieren muss: Außer Hypothesen nichts gewesen. Regeln zur gesunden Ernährung sind so verlässlich wie das Lesen in der Glaskugel oder im Kaffeesatz.
Warum dürfen sich Ihre Patienten bei ANAD e.V. nicht vegan ernähren?
Schnebel: Ein Problem, das allen Essstörungen gemein ist, ist das unflexible Essverhalten. Betroffene verbieten sich Lebensmittel, die aus ihrer Sicht zu ungesund, zu kalorienreich, zu fettig oder zu süß sind. Dies hat einen extrem eingeschränkten Speiseplan zu Folge. Während zu Beginn einer Erkrankung das Einhalten der selbstauferlegten Regeln stolz macht, belastet die Einschränkung im weiteren Verlauf zunehmend. Vegane Ernährung ist so ziemlich das Gegenteil von Spontaneität. Alle Produkte müssen akribisch auf tierische Inhaltsstoffe geprüft werden. Für Betroffene, die noch nicht bereit sind, die Essstörung aufzugeben, ist vegane Ernährung eine gute Möglichkeit, ihre Essprobleme zu kaschieren. Denn vegane Ernährung hat den Anschein eines gesunden Lebensstils, der hip ist und mit dem Image des progressiven Großstadtflairs assoziiert wird. Das zwanghafte Weglassen zahlreicher kalorienreicher Lebensmittel kann so in der Öffentlichkeit ganz einfach mit der Hipster-Ernährung kaschiert werden. Wieder frei, flexibel, angstfrei und spontan essen zu können, das sind die Top-Themen in der Ernährungstherapie bei ANAD. Unser Behandlungsansatz ist daher strikt »Anti-Diät«. Das bedeutet, eine abwechslungsreiche, vielfältige und ausgewogene Ernährung. Keine Light-Produkte und kein Verzicht auf Kohlenhydrate und Milchprodukte. Wir haben Ernährungstherapeuten, die ständig im Austausch mit Wissenschaftlern und Ärzten stehen. Auch geben wir zu bedenken, dass extreme Ernährungs-Trends oft der direkte Einstieg in die Essstörung sein können.
Müssen Eltern auch Angst vor Süßigkeiten, Fast Food und „ungesunden Lebensmitteln“ haben?
Knop: Nein, dafür existiert keine wissenschaftliche Grundlage. Fast zeitgleich haben zwei aktuelle Publikationen, frei von Interessenkonflikten und Fremdfinanzierung, aus den USA[2] und Wales[3] unabhängig voneinander das gleiche Ergebnis geliefert: Zwischen dem Körpergewicht von Kindern und der Ernährungsweise existiert kein statistisch relevanter Zusammenhang. Die Forscher untersuchten dazu den Konsum sowohl von gezuckerten Softdrinks, Süßigkeiten, Fast Food als auch von Obst und Gemüse. Die aktuellen Studien bestätigen zahlreiche bereits erschienene Publikationen [u.a. 4-6] und verdeutlichen erneut: Die von Ernährungsideologen propagierte Angstfor- mel „Limo, Süßigkeiten und Fastfood machen Kinder dick“ ist aus wissenschaftlicher Sicht nicht im Geringsten haltbar – es liegen noch nicht einmal konsistente Korrelationen (statistische Zusammenhänge) vor, geschweige denn Kausalitäten (Ursache-Wirkung-Belege).
Welche Ernährung beugt Essstörungen am besten vor?
Knop: Da gibt es keine bestimmten Lebensmittel oder gar Ernährungsweisen. Es gibt so viel gesunde Ernährungen, wie es Kinder gibt – denn: Jedes Kind is(s)t anders. Wichtig ist der individuelle Ansatz: Kinder sollten das essen können, was ihnen gut schmeckt und was sie gut vertragen. Sie sollten auf ihren Körper hören und sich genussvoll satt essen. Wenn ihnen essen Spaß macht und sie sich auf die gemeinsamen Mahlzeiten freuen und diese genießen, dann haben Eltern eine gute Grundlage für ein intuitiv-gesundes Essverhalten geschaffen, das Essstörungen vorbeugen kann.
Welche allgemeinen Empfehlungen sind hilfreich, um essgestörtes Verhalten bei Kindern und Jugendliche vorzubeugen?
Schnebel: Ein »gesundes« Familienleben: das bedeutet, Kinder zu starken und selbstbewussten Persönlichkeiten erziehen. »So wie Du bist – so bist du toll!« Kinder sollten lernen, dass es im Leben auch Rückschläge geben darf. Die Kultur »Scheitern ist auch erlaubt oder perfekt muss nicht immer gut sein« sollte in unserer Gesellschaft wieder etwas Raum erhalten. Bleiben Sie mit Ihren Kindern im Dialog und holen Sie sich Hilfe, wenn Sie Fragen, Ängste oder Unsicherheiten haben. Versuchen Sie ein gutes Vorbild für Ihre Kinder zu sein.
Worauf sollten Eltern bei der Ernährung ihrer Kinder achten, damit sie ein natürlich-gesundes Essverhalten entwickeln?
Knop: Lernen Sie die Gefühle ihres Kindes kennen. Wann hat es Hunger, wann ist es satt, wie gut fühlt es sich nach dem Essen? Je besser Sie Ihr Kind kennen, desto besser verstehen Sie sein Essverhalten – und desto besser können Sie es mit dem versorgen, was es wirklich braucht. Geben Sie dem Kind, das, was es gerne isst. Nichts verbieten, alles ist erlaubt. Ideal: Ein Tag in der Woche wird zum „Testtag“. Als kleines Ritual gibt es an diesem Tag immer ein neues, frisches kulinarisches Erlebnis zum Probieren. Bieten Sie Ihrem Kind Vielfalt an und leben Sie vor, dass Essen etwas sehr Schönes ist, vor dem man keine Angst haben muss. Binden Sie Ihr Kind des Weiteren in die Vor- und Zubereitung ein, lassen Sie es schnibbeln, mitkochen und den Tisch decken.
*Andreas Schnebel ist Diplom Psychologe, Psychotherapeut, Geschäftsführender Vorstand und Mitgründer von ANAD e.V. Versorgungszentrum Essstörungen in München sowie Vorstandsvorsitzender des Bundesfachverbands Essstörungen e.V.
Weiteres Interview: DER STANDARD (A) „Eine Essstörung muss immer als Sys- tem betrachtet werden“
E-Mail: schnebel@anad.de | Telefon: 089-219973-0
**Uwe Knop ist Ernährungswissenschaftler und Buchautor, der in seinem aktuellen Buch KIND, ISS WAS … DIR SCHMECKT! die wissenschaftliche Abrechnung mit den Märchen zu gesunder Kinderernährung liefert.
Weiteres Interview: DER STANDARD (A) „Kinder vegan zu ernähren hat null Nutzen“
E-Mail: presse@echte-esser.de | Telefon: 069/17071735
Quellen:
[1] 1. Kinderreport AOK Nordost, September 2017
[2] Jackson S, Cunningham A (2017); The stability of children’s weight status over time, and the role of television, physical activity, and diet. Preventive Medicine; Volume 100, July 2017, Pages 229-234
(( „Across all ages, physical activity and dietary choices
were not significantly associated with subsequent BMI z-score.” 4.938 children from Kindergarten to 8th grade, nationally representative cohort from the US ))
[3] Beynon C, Fone D (2017); Risk factors for childhood obesity: a data analysis of the Welsh Health Survey. Nursing Children and Young People; 29, 6, 38-44.Published in print: 10 July 2017
(( „This study suggests that there are risk factors for childhood obesity which are more important than consumption of unhealthy food and sugar-sweetened drinks.“11.279 children aged 4-15 years ))
[4] Gasser CE et al., Confectionery consumption and overweight, obesity, and related outcomes in children and adolescents: a systematic review and meta-analysis. Am J Clin Nutr. 2016 May; 103(5):1344-56
(( “Instead of overweight and obese children and adolescents having higher confectionery intakes, this review shows the reverse effect. Interventions may need to focus on dietary elements other than confectionery to tackle obesity.” ))
[5] Braithwaite I et al., Fast-food consumption and body mass index in children and adolescents: an international cross-sectional study; BMJ-Open 2014;4: e005813 (( “The reverse association [more fast-food=lower BMI] observed in adolescents should be interpreted with caution.” ))
[6] Keller A et al., Sugar-Sweetened Beverages and Obesity among Children and Adolescents: A Review of Systematic Literature Reviews; Child Obes. 2015 Aug; 11 (4): 338-46 (( “However, recent evidence from well-conducted meta-analyses shows discrepant results regarding the association between SSB and weight gain, overweight, and obesity among children and adolescents.” ))