Heidelberg – Virologen vom Universitätsklinikum Heidelberg und vom Deutschen Krebsforschungszentrum zeigen: Eine neue Virusfamilie in Fischen gibt Einblicke in die Herkunft und in die Evolution des Hepatitis-B-Virus. Die Entdeckung ermöglicht die Rekonstruktion eines Stammbaumes von Hepatitis-B und verwandten Viren. Der Ursprung des Hepatitis-B-Virus steht mit dem Landgang der Wirbeltiere vor ca. 400 Millionen Jahren in Verbindung. Ein neues Gen führte zur Ausbildung einer Hülle und damit zu einer Spezialisierung auf Leberzellen.
Auch unliebsame Begleiter können treue Weggefährten sein: Wie Wissenschaftler der Abteilung Virus-assoziierte Karzinogenese des Deutschen Krebsforschungszentrums sowie der Abteilung für Molekulare Virologie des Universitätsklinikums Heidelberg, beide unter der Leitung von Ralf Bartenschlager, zeigen, folgten Vorläufer des heutigen Hepatitis-B-Virus der Evolution des Lebens quasi auf Schritt und Tritt. Der Weg begann, als ein Vorfahre dieser Viren sich vor ca. 430 Millionen Jahren in zwei Gruppen gespalten hat: Aus einer entwickelten sich die bekannten Hepadnaviren, die eine Hülle tragen und zu denen auch das Hepatitis-B-Virus zählt – und aus dem zweiten Ast des Stammbaums ging eine in Fischen neu entdeckte Familie hervor, die keine Hülle hat und deshalb in Anspielung auf den schwäbischen Dialekt „Nackednaviren“ getauft wurde.
Die entscheidende Veränderung nach der Aufspaltung beider Linien war die Entstehung eines neuen Gens auf Seiten der Hepadnaviren, welches diesen ihre Hülle und damit eine ausgeprägte Spezifität für die Leber verleiht. Dieser fundamentale evolutionäre Übergang von nackten zu umhüllten Viren geschah vor mehr als 360 Millionen Jahren, also innerhalb des Zeitfensters, in welcher die ersten, noch fischartigen Wirbeltiere damit begannen, das Festland zu erobern.
„Diese lange Koevolution von Hepatitis-B-Viren und deren Wirtsorganismen erklärt die extrem gute Anpassung der Viren an ihren jeweiligen Wirt. Das zeigt sich auch im Erfolg des Hepatitis-B-Virus: Weltweit haben circa zwei von fünf Personen einmal eine Infektion mit diesem Virus durchgemacht. In den allermeisten Fällen passiert das ohne Symptome und wenn es einen Leberschaden gibt, ist dieser durch die Immunantwort gegen die infizierten Zellen bedingt und weniger durch das Virus selbst“, fasst Ralf Bartenschlager, der Senior-Autor der aktuellen Publikation, zusammen.
Hepatitis-B-Viren und ihre Verwandten: kleine Genome mit überlappenden Genen
Die Humanmedizin ist ausgesprochen interessiert an neuen Erkenntnissen zum Hepatitis-B-Virus, denn schätzungsweise 250 Millionen Menschen weltweit sind damit lebenslang chronisch infiziert. Es wird für die Entstehung von Leberzirrhose und Leberkrebs verantwortlich gemacht und verursacht global betrachtet schätzungsweise 890.000 Todesfälle jährlich. Für Virologen ist es neben seiner medizinischen Bedeutung faszinierend, weil es mit einem vergleichsweise kleinen Genom von nur 3182 Basenpaaren für eine Vielzahl von Funktionen kodiert.
Dies gelingt dem Virus, indem es bestimmte Genomsequenzen doppelt nutzt: Immer drei Nukleotide codieren für eine Aminosäure – und viele Aminosäuren bauen ein Protein auf. Verschiebt sich nun die Ablesung dieser Nukleotide nur um eine einzige Stelle, kann einem Geheimcode gleich eine andere „Nachricht“, also ein anderes Protein entstehen. So kodiert ein langer DNA-Abschnitt des Virus für ein Replikationsenzym, ein komplett darin eingebettetes kürzeres Stück aber gleichzeitig für die Proteine der Hülle.
Stefan Seitz aus der Arbeitsgruppe von Lasker-Preisträger Bartenschlager ging der Frage nach, wie sich diese faszinierende Mehrfachverwertung von DNA entwickeln konnte. „Wir vermuteten, dass die Hepadnaviren aus einem primitiveren Virus ohne Hüllprotein-Gen entstanden sind, indem ein Stück fremde DNA zufällig in das Virus-Genom gesprungen ist.“
Die Entwicklung einer Hülle stellte entscheidende Weichen für die Gruppe der Hepadnaviren: Die Hüllproteine erkennen nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip ganz bestimmte, aber von Wirt zu Wirt unterschiedliche Rezeptormoleküle auf der Oberfläche von Leberzellen und ermöglichen es den Viren somit, an ihr Ziel anzudocken. Ein Wechsel zwischen verschiedenen Wirtstierarten ist den Hepadnaviren deshalb nur noch ausnahmsweise möglich – im Gegensatz zu Nackednaviren, denen dies häufig gelingt. Die Vorteile überwiegen jedoch, was erklärt, warum beispielsweise Hepatitis-B-Viren so extrem erfolgreich sind: „Die Hülle erleichtert den Viren den Eintritt in die Zelle, weil sie mit der Zellmembran des Wirts verschmelzen. Hüllenlose Viren haben es wesentlich schwerer, in die Zelle hineinzugelangen“, so Stefan Seitz. Auch gibt es Hinweise darauf, dass die Hüllproteine das Hepatitis B-Virus dabei unterstützen, sich gegen das Immunsystem des Wirts zu wehren. Durch tausendfache Überproduktion von leeren Hüllen im Verhältnis zu infektiösen Viruspartikeln wird die Immunantwort abgelenkt und das Virus kann sich dauerhaft in den Leberzellen einnisten.
13 aus 25.000: Spurensuche mit einem Hochleistungscomputer
Um die Theorie zu untermauern, dass die umhüllten Viren aus hüllenlosen entstanden, begann eine Art virologischer Detektivarbeit. Stefan Seitz entwarf ein Modell, wie das Genom eines hüllenlosen Vorläufervirus aufgebaut sein müsste. Gemeinsam mit Chris Lauber vom Institut für Medizinische Informatik und Biometrie der Technischen Universität Dresden und unterstützt durch Hochleistungsrechner des dortigen Rechenzentrums durchsuchten sie über 25.000 Sequenzierprojekte von Fischen nach Gensequenzen, die den hüllenlosen Vorläufern von Hepatitis-B-Viren entsprechen könnten.
„Die Genome der Viren wurden sozusagen versehentlich mitsequenziert, wenn die Proben von einem infizierten Tier stammten“, sagt Stefan Seitz. Die Wissenschaftler wurden tatsächlich fündig: Nach und nach entdeckten sie entsprechende Genome in 13 völlig unterschiedlichen Fischarten, die heute weltweit verbreitet sind, beispielsweise im Europäischen Aal sowie im Rotlachs, einem beliebten Speisefisch aus dem Nordpazifik. Weitere Analysen brachten noch eine entscheidende Erkenntnis für die Evolution der Virusfamilien: Es zeigte sich, dass die umhüllten Hepadnaviren nicht nur, wie lange vermutet, in Säugetieren und Vögeln vorkommen, sondern auch in Amphibien und Reptilien.
Stammbaumanalyse bei Viren
Doch in welchem zeitlichen Zusammenhang stehen die verschiedenen Virusarten zueinander? Um dies herauszufinden, wendeten die Wissenschaftler einen weiteren Kunstgriff an: Sie suchten in der Gruppe der Neoaves – die alle heutigen Vögel außer Hühnervögeln, Enten- und Straußenartigen umfasst – nach Spuren eines Virus, das vor Beginn der explosiven Entwicklung dieser Tiergruppe vor rund 69 Millionen Jahren in das Wirtsgenom integriert und sozusagen als blinder Passagier an alle Nachkommen vererbt wurde. Da das Alter dieser Tiergruppe mit hoher Genauigkeit bestimmt wurde, ließ sich mittels dieses urtümlichen, im Wirtsgenom quasi „fossilisierten“ Vogelvirus der gemeinsame Stammbaum der Hepadnaviren und der Nackednaviren zeitlich kalibrieren.
Es zeigte sich dabei auf verblüffende Weise, dass die Verzweigungen im Stammbaum auf der Seite der Hepadnaviren zeitlich aufs Engste den Verzweigungen im Stammbaum der jeweiligen Wirtstiere entsprechen. „Es gibt eindeutig eine Koevolution zwischen Virus und Wirt“, fasst Stefan Seitz zusammen. „Die Aufspaltung von hüllenlosen Nackedna- und umhüllten Hepadnaviren entspricht zeitlich der Aufspaltung von Strahlen- und Fleischflossern im Silur vor rund 430 Millionen Jahren. Aus den Fleischflossern entstanden die Landwirbeltiere, weshalb wir vermuten, dass die Entstehung des Hüllprotein-Gens mit dem Landgang vor circa 400 bis 360 Millionen Jahren in Verbindung steht. Letztendlich tragen wir Menschen mit dem Hepatitis-B-Virus den Nachfahren eines Fisch-Virus in uns, der uns seit vielen Millionen Jahren begleitet.“
Literatur:
Lauber, Seitz et. al. (2017): Deciphering the origin and evolution of hepatitis B viruses by means of a family of non-enveloped fish viruses. Cell Host & Microbe. Doi: 10.1016/j.chom.2017.07.019
Das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ) ist mit mehr als 3.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die größte biomedizinische Forschungseinrichtung in Deutschland. Über 1000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erforschen im DKFZ, wie Krebs entsteht, erfassen Krebsrisikofaktoren und suchen nach neuen Strategien, die verhindern, dass Menschen an Krebs erkranken. Sie entwickeln neue Methoden, mit denen Tumoren präziser diagnostiziert und Krebspatienten erfolgreicher behandelt werden können. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Krebsinformationsdienstes (KID) klären Betroffene, Angehörige und interessierte Bürger über die Volkskrankheit Krebs auf. Gemeinsam mit dem Universitätsklinikum Heidelberg hat das DKFZ das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) Heidelberg eingerichtet, in dem vielversprechende Ansätze aus der Krebsforschung in die Klinik übertragen werden. Im Deutschen Konsortium für Translationale Krebsforschung (DKTK), einem der sechs Deutschen Zentren für Gesundheitsforschung, unterhält das DKFZ Translationszentren an sieben universitären Partnerstandorten. Die Verbindung von exzellenter Hochschulmedizin mit der hochkarätigen Forschung eines Helmholtz-Zentrums ist ein wichtiger Beitrag, um die Chancen von Krebspatienten zu verbessern. Das DKFZ wird zu 90 Prozent vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und zu 10 Prozent vom Land Baden-Württemberg finanziert und ist Mitglied in der Helmholtz-Gemeinschaft deutscher Forschungszentren.