Berlin – „Wir brauchen mehr solche Einrichtungen, um HIV-Infektionen zu verhindern“ – Aktionsbündnis gegen AIDS und Deutsche AIDS-Hilfe: Drogenkonsumräume auch in den fehlenden neun Bundesländern schaffen. In Osteuropa können nur solche Angebote zur Verminderung von Gesundheitsrisiken die HIV-Epidemie stoppen / Pressefotos verfügbar
Tim Martineau, stellvertretender Direktor von UNAIDS, hat heute in Berlin einen Drogenkonsumraum und die Konsummobile der Drogenhilfeeinrichtung Fixpunkt besucht.
Anlässlich des Ortstermins sagte der Vize des HIV/Aids-Programms der Vereinten Nationen:
„Menschen, die Drogen konsumieren und injizieren haben ein viel höheres HIV-Risiko, werden jedoch noch immer marginalisiert und haben oft keinen Zugang zu Gesundheitsversorgung und Hilfsangeboten. Deutschland kann Neuinfektionen verhindern und Schäden durch injizierenden Drogenkonsum vermindern: mit einem menschenrechtsbasierten Ansatz, der sich an der Situation der Betroffenen orientiert, und indem Drogen injizierende Menschen Zugang zu Maßnahmen erhalten, die Gesundheitsrisiken reduzieren. Notwendig sind noch mehr Einrichtungen wie Fixpunkt, damit niemand ausgeschlossen bleibt.“
Ungeliebte Lebensretter
Drogenkonsumräume bieten im Fall einer Überdosis professionelle Hilfe, ein sicheres Umfeld sowie saubere Spritzen und Konsumutensilien. Für viele Menschen sind sie die Eintrittspforte ins Hilfesystem. In Deutschland gibt es solche Anlaufstellen bisher in sechs Bundesländern. Gerade hat Baden-Württemberg sich entschieden, den Betrieb rechtlich zu ermöglichen, ein erster Raum soll in Karlsruhe eröffnen. Doch in neun weiteren Ländern sind die Einrichtungen nicht erlaubt.
Durchbruch in Baden-Württemberg
Dazu erklärt Sylvia Urban, Mitglied im Vorstand des Aktionsbündnisses gegen AIDS (AgA) und der Deutschen AIDS-Hilfe (DAH):
„Die Entscheidung in Baden-Württemberg und Karlsruhe ist wegweisend. Wir hoffen, dass nun die fehlenden Länder und viele Städte folgen. Diese Einrichtungen retten Leben und vermeiden Infektionen. Aus Sicht von Prävention und Gesundheitspolitik gibt es keinen vernünftigen Grund, weiter auf Drogenkonsumräume zu verzichten und damit Menschen im Stich zu lassen.“
Hoher Bedarf in Süddeutschland und Bremen
Dringend benötigt werden Konsumräume unter anderem in Mannheim, der deutschen Stadt mit den an der Einwohnerzahl gemessen meisten Drogentodesfällen, sowie in Stuttgart, in den bayerischen Städten München, Nürnberg und Augsburg sowie in Bremen. Dort sterben besonders viele Menschen vermeidbare Drogentode.
In Deutschland machte eine Änderung des Betäubungsmittelgesetzes im Jahr 2000 den Weg frei für die Einrichtung von Drogenkonsumräumen, die Länder müssen jedoch entsprechende Rechtsverordnungen erlassen. Es gibt heute 24 Einrichtungen in Berlin, Hamburg, Niedersachsen, Hessen, Nordrhein-Westfalen und dem Saarland.
Kapazitäten ausbauen
Häufiges Manko: Es gibt nicht genügend Einrichtungen, keine Ressourcen für ausreichend lange Öffnungszeiten und die begleitende Nachbarschafts- und Straßensozialarbeit:
Astrid Leicht, Geschäftsführung der Fixpunkt gGmbH:
„Das große Potenzial der Drogenkonsumräume sollte durch politische und finanzielle Förderung besser genutzt werden. Für süchtige Menschen, die auf der Straße leben, sind Drogenkonsumräume ein überlebensnotwendiger Ort. Diese Menschen haben oft keinen Zugang zu medizinischen und suchtbezogenen Angeboten und häufig auch keine rechtlichen Ansprüche auf Sozial- und Gesundheitsleistungen. In den Einrichtungen können sie Kontakt und Vertrauen aufbauen und erste Hilfen zur Veränderung ihrer Lebenssituation finden.“
Katastrophale Situation in Osteuropa
Die WHO stuft Drogenkonsumräume als besonders wichtige Maßnahme ein. In Osteuropa gibt es bisher dennoch keinen einzigen solchen Anlaufpunkt. In vielen Ländern, vor allem Russland fehlen Angebote zur Risikominimierung fast völlig, es gibt dort zum Beispiel kaum Spritzenvergabe, Substitutionstherapien sind sogar illegal. Die Infektionszahlen sind dort in den letzten Jahren dramatisch angestiegen.
Dazu AgA- und DAH-Vorstand Sylvia Urban:
„Drogenkonsumräume und Schadensminimierung sind ein unverzichtbarer Bestandteil von HIV- und Hepatitisprävention. Die Welt weiß längst, wie sie die Epidemie in den Griff bekommen kann und verfügt über alle Mittel dazu. Es ist die Politik, die Erfolge verhindert. Nur mit Angeboten zur Minimierung von Gesundheitsschäden beim Drogenkonsum lässt sich die HIV-Epidemie stoppen. Dafür gilt es, Hürden zu beseitigen – gesetzlich, politisch und in den Köpfen.“
Darüber hinaus ist es an der Zeit, neue politische Strategien im Umgang mit Drogen zu erdenken und erproben. Kriminalisierung von Konsum und Marginalisierung schaden abhängigen Menschen ebenso wie der Gesellschaft. Zur Lösung könnte zum Beispiel die kontrollierte Abgabe von pharmazeutischem Heroin an Abhängige übers Medizinsystem gehören.
„Wir brauchen kluge Modelle, die Schäden vermeiden und Ressourcen sinnvoll einsetzen. Statt Schwarzmärkte indirekt zu unterstützen, können wir die Kontrolle zurückgewinnen“, so Sylvia Urban.
Weitere Informationen:
UNAIDS zur Schadensminimierung
Informationsseite über Drogenkonsumräume in Deutschland
Grünes Licht für Drogenkonsumraum in Karlsruhe (Sozialministerium)