Berlin – Unter dem Titel Nutzen und Kosten im Gesundheitswesen – Zur normativen Funktion ihrer Bewertung hat der Deutsche Ethikrat heute seine dritte Stellungnahme verabschiedet.
Der Deutsche Ethikrat will anlässlich der aktuellen gesetzgeberischen Debatte im Kontext des Gesetzes zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes (AMNOG) sowie dem geplanten Versorgungsgesetz mit seiner Stellungnahme dazu beitragen, die schwierigen Fragen der Verteilungsgerechtigkeit am Beispiel ethisch umstrittener gesundheitsökonomischer Bewertungsmethoden in den Blick von Politik und Öffentlichkeit zu bringen.
Die Festlegung von Kriterien für eine gerechte Ressourcenverteilung im Gesundheitswesen ist eine politische Aufgabe mit einer medizinischen, ökonomischen, ethischen und juristischen Dimension. Die Komplexität der Fragestellung macht es allerdings äußerst schwierig, einen Konsens zwischen allen Beteiligten herzustellen. Dennoch ist der Deutsche Ethikrat der Ansicht, dass sich Grundsätze formulieren lassen, an denen sich existierende Strukturen und Prozesse messen lassen müssen.
Der Ethikrat hält es für dringend erforderlich, Priorisierung, Rationalisierung und Rationierung im Gesundheitswesen offen zu thematisieren. Jede Form einer verdeckten Rationierung medizinischer Leistungen ist abzulehnen. Notwendige Rationierungsentscheidungen dürfen nicht an den einzelnen Arzt oder die einzelne Pflegekraft delegiert werden. Dabei bedeutet das Sicheinlassen auf das Problem der Verteilung knapper Ressourcen im Gesundheitswesen keine Festlegung auf eine Ökonomisierung von Entscheidungen. Eine sachliche Debatte erfordert vielmehr die Einbeziehung medizinischer, ökonomischer, ethischer und juristischer Expertise in ein transparentes Verfahren. Letztlich sind Entscheidungen über den Umfang solidarisch finanzierter Leistungen ethische Entscheidungen, die im gesellschaftlichen Diskurs und auf politischem Wege getroffen werden müssen.
Ausgangspunkt jeglicher Entscheidungen sind das Prinzip der Menschenwürde und die Grundrechte, die einen durch Rechte gesicherten Zugang jedes Bürgers zu einer angemessenen Gesundheitsversorgung erfordern. Diese Rechte dürfen nicht hinter etwaige Erwägungen zur Steigerung des kollektiven Nutzens zurückgestellt werden. Auch darf der errechnete oder vermutete sozio-ökonomische Wert von Individuen oder Gruppen nicht Grundlage von Verteilungsentscheidungen sein.
Davon ausgehend formuliert der Deutsche Ethikrat 12 Empfehlungen, die von den Entscheidungsträgern im Gesundheitswesen bei der Gestaltung von gesetzlichen Regelungen beachtet werden sollten, um eine bestmögliche und gleichzeitig gerechte Verwendung der Mittel für das Gesundheitswesen zu erreichen.
Der verantwortliche Einsatz knapper Ressourcen erfordert es, sie für Maßnahmen einzusetzen, die unter den alltäglichen Versorgungsbedingungen tatsächlich einen Nutzen erbringen. Neben der frühen Nutzenbewertung zur Preisfestlegung muss eine ausführliche Nutzenbewertung unabhängig von Kostenerwägungen vor allem in Bezug auf die patientenrelevanten Endpunkte (Mortalität, Morbidität, Lebensqualität) durch den G-BA und das IQWiG weiterhin jederzeit möglich sein. Für wichtige Indikationsbereiche sollte eine systematische zweite Stufe der Nutzenbewertung nach einem angemessenen Zeitraum regelhaft eingeführt werden, nicht nur für Arzneimittel, sondern auch für nichtmedikamentöse Behandlungsverfahren. Ein Leistungsausschluss wegen fehlenden Nutzens muss aus Gründen des Patientenschutzes möglich sein.
Der Ethikrat empfiehlt, die Transfer- und die Versorgungsforschung auszubauen, ebenso die vom Hersteller unabhängige Förderung versorgungsnaher klinischer Studien nach Zulassung eines Medikaments oder Medizinprodukts. Dies ist zu verbinden mit einer systematischen Identifikation besonders relevanter Forschungsfragen für die medizinische Versorgung zum Beispiel durch den G-BA. Dazu hat der Gesetzgeber geeignete Rahmenbedingungen zu schaffen.
Es ist eine Publikationspflicht für alle Studien anzustreben, unabhängig von ihrem Ergebnis, und nicht nur für die zulassungsrelevanten konfirmatorischen Studien sowie für die klinischen Prüfungen nach Zulassung. Nur so ist der Zugang zu allen für die Nutzenbewertung relevanten Daten zu gewährleisten.
Im Kontext der Kosten-Nutzen-Bewertung medizinischer Leistungen gibt es aus ethischer und gerechtigkeitstheoretischer Sicht gewichtige Gründe dafür, nicht das Prinzip einer patientengruppen-übergreifenden Nutzenmaximierung zu verfolgen. Deshalb sollte der Gesetzgeber § 35b SGB V (Bewertung des Kosten-Nutzen-Verhältnisses von Arzneimitteln) entsprechend klarstellen. Aber auch die Kosteneffektivitätsberechnungen nach einem Effizienzgrenzenkonzept können nicht ethisch neutral als Maßstab der Angemessenheit von Erstattungsentscheidungen für Innovationen dienen. Denn die Kosteneffektivität der jeweils nützlichsten etablierten Therapie im jeweiligen Indikationsgebiet, also der Status quo, beruht auf vielfältigen, zuweilen nicht aufeinander abgestimmten Faktoren. Der Gesetzgeber hat mit dem Hinweis auf die Berücksichtigung der internationalen Standards der Gesundheitsökonomie (§ 35b Abs. 1 S. 5 SGB V) keine ausreichend klaren Vorgaben gemacht.
Die Auswirkungen der aktuellen Vorgaben zur Kosten-Nutzen-Bewertung in Deutschland sind zurzeit wegen des rechtlich unveränderten Anspruchs der Versicherten auf Versorgung mit allem medizinisch Notwendigen im Wesentlichen unschädlich. Sie dienen derzeit nicht als Instrument zur Verteilung knapper Ressourcen, sondern zur Preisfestsetzung. Die in Zukunft zu erwartende Notwendigkeit von Rationierungsentscheidungen wird den Gesetzgeber aber zwingen zu klären, in welchem Umfang Leistungsansprüche nach § 27 und § 12 SGB V von einer Kosten-Nutzen-Bewertung beeinflusst werden dürfen und in welchem Verhältnis sich diese zum Kriterium der medizinischen Notwendigkeit verhält.