Bonn, 26. März 2018 – Eigentlich sollten Menschen in psychischen Krisen seit der Psychotherapie-Reform von April 2017 schneller einen Termin bei einem Psychotherapeuten bekommen. Eigentlich. In Wirklichkeit hat sich nicht viel geändert. Und dass die Versorgung insbesondere auf dem Land weiterhin unzureichend ist, beweist ein Brandbrief eines Hausarztes, der sich an die Deutsche DepressionsLiga e.V. gewandt hat.
Knapp ein Jahr nach der bundesweiten Psychotherapie-Reform im April 2017 hat sich nach Ansicht von Experten so gut wie nichts geändert, geschweige denn verbessert. Laut einem Bericht des „Spiegel“ schätzt die Deutsche Psychotherapeutenvereinigung, „dass Versicherte trotz Reform mehr als 15 Monate auf den Beginn ihrer Behandlung warten, in manchen Regionen vergeht noch mehr Zeit“. Dietrich Munz, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer, wird in dem Bericht mit den Worten zitiert: „Es ist eine Illusion zu glauben, dass es durch die Reform keine Wartezeiten mehr gäbe.“
Laut Psychotherapeuten- und Verbraucherverbänden lehnten die Krankenkassen trotz Reform die Kostenerstattung ab, wenn sich Versicherte auch bei staatlich anerkannten Psychotherapeuten ohne Kassenzulassung um einen Termin bemühten. Von hohen bürokratischen Hürden ist die Rede.
Für Waltraud Rinke, Vorsitzende der Deutschen DepressionsLiga e.V., ist dieser Zustand untragbar: „Wir können noch so viel Aufklärungs- und Antistigma-Arbeit betreiben, wenn in der Praxis Betroffenen nicht schnell geholfen wird.“ Wer beispielsweise typische Depressionssymptome aufweist, der darf nicht allein gelassen werden, so Rinke.
Wer medizinische Hilfe benötigt oder Rat sucht, für den ist meist der Hausarzt der erste Ansprechpartner. Aber auch hier ist die Situation nicht rosig. Aufgrund des Hausärztemangels insbesondere auf dem Land haben Ärzte oftmals nicht die notwendige Zeit, um auf psychische Erkrankungen bzw. Symptome ausreichend einzugehen. Dies geht auch aus einem Brief hervor, den ein Hausarzt aus Niedersachen an die Deutsche DepressionsLiga e.V. geschrieben hat. Mit Einverständnis des Arztes ist sein Schreiben hier mit angefügt. Auf seinen Wunsch hin ohne Namen.
Dieser Brief sowie die erste Bilanz zur Psychotherapie-Reform beweisen, dass es um die medizinische Versorgung, gerade bei psychischen Notfällen, nicht gut bestellt ist in Deutschland. In Zeiten, in denen stets von der „Volkskrankheit Depression“ gesprochen wird, darf dies nicht sein.
Das Schreiben des Hausarztes im Wortlaut:
„Ich bin Hausarzt in einer ländlichen Region in Niedersachsen. Immer wieder wird erwähnt, dass Patienten mit Depressionen sich sehr schnell Hilfe suchen sollten. Zum Beispiel den Hausarzt, beim Auftreten von typischen Symptomen über einen längeren Zeitraum hinweg den Facharzt.
Hier auf dem Land hat eine Hausarztpraxis nach der anderen keinen Nachfolger. Ich bin aktuell aufgrund der Konzentration bei fünf Minuten pro Patient Gesprächszeit angekommen. Mehr geht nicht mehr im Durchschnitt. Für psychologische Gespräche fehlt leider völlig die Zeit. Vor einiger Zeit musste ich einen depressiven Patienten drei Mal in die Psychiatrie einweisen, und drei Mal wurde er wegen Bettenmangels nicht aufgenommen. Erst bei der vierten Einweisung mit Rettungswagen (nach Suizidversuch) wurde er aufgenommen: Dann aber gleich sechs Wochen behandelt.
Wenn wir versuchen, Termine beim Psychotherapeuten zu vereinbaren, dauert es sechs Monate! Natürlich gibt es die Möglichkeit, über die Terminservicestellen der Kassenärztlichen Vereinigung einen Vorab-Gesprächstermin zu vereinbaren: Der ist aber nur Formsache und nützt nicht wirklich. Da durch diese Servicestellen auch nicht mehr Gesprächszeit generiert werden kann, ist die Warterei auf einen reellen Platz eben trotzdem dann sechs Monate.
Aber immer wieder werden Patienten ermuntert, sich sofort Hilfe zu suchen bei Depressionen. Die Tür der Hausärzte ist die einzige, die überhaupt offensteht. Der Hausarzt hat aber wiederum gar keine Zeit! Zu anderen Stellen wird ein depressiver Patient nicht durchgelassen.
Seit dem Suizid des Fußballnationaltorwartes Robert Enke wird vermehrt und zurecht für die wichtige frühe Hilfe in der Öffentlichkeit Werbung gemacht. Aber sollte man nicht mal so ehrlich sein und zugeben, dass die frühe Hilfe zwar sinnvoll ist, praktisch jedoch gar nicht umsetzbar und vorhanden ist?
Das Ende vom Lied ist, dass die Patienten beim Hausarzt immer öfter aufschlagen, weil sie sonst nirgendwo Gehör finden. Nur irgendwann wird der Hausarzt auch mal depressiv, wenn aus o.g. Gründen die Überlastung auch durch das Anspruchsdenken der Bevölkerung ins Unerträgliche steigt. Die Realität ist: Es gibt weder genug Ärzte noch Therapeuten für schnelle Hilfe!
Deshalb muss in der Öffentlichkeit viel mehr Werbung gemacht werden auch für ehrenamtlich tätige Selbsthilfegruppen und ähnliche Organisationen, die für Betroffene eine wichtige Unterstützung sein können!
Auch eine bessere Aufklärung der Hausärzte, wie sie depressive Patienten an solche Organisationen anbinden können, oder wie sie allgemein depressiven Patienten helfen können, obwohl sie selber kaum Zeit haben und auch keinen Therapeuten oder Facharzt zeitnah vermitteln können, scheint dringend erforderlich zu sein.“
Mit freundlichen Grüßen
Armin Rösl
Vorstandsmitglied und Öffentlichkeitsbeauftragter