Berlin – Anzahl der langwirksamen Gentherapien könnte von drei auf 45 steigen – Herausforderungen für den Patientenzugang und die Finanzierung
Die Zahl genetischer Therapien wird in den kommenden Jahren stark zunehmen. Viele dieser Gentherapien zeichnen sich durch eine Langwirksamkeit aus. Derzeit sind drei langwirksame Gentherapien in der EU zugelassen. 42 weitere stehen kurz vor der Marktreife, da sie sich in späten Phasen der klinischen Entwicklung befinden. Diese hochinnovativen Präparate eröffnen schwerkranken Patienten neue Behandlungsoptionen, könnten jedoch die Krankenkassen unterschiedlich stark belasten. Experten empfehlen daher, das Erstattungs- und Finanzierungssystem der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) an diese Entwicklungen anzupassen.
Das geht aus einer Prognose des IGES Instituts hervor. Es ist die erste Untersuchung ihrer Art, die einen systematischen Überblick über langwirksame gentherapeutische Behandlungen auf dem Markt und in fortgeschrittener Phase der klinischen Entwicklung liefert. Langwirksame Gentherapeutika müssen nur einmalig oder mehrmals mit anschließenden therapiefreien Jahren verabreicht werden. Kurzwirksame Gentherapien werden kontinuierlich gegeben.
Gentherapeutische Behandlung von Krebserkrankungen im Fokus
Knapp die Hälfte dieser erwarteten Gentherapien adressieren onkologische Erkrankungen (19 Therapien). Am zweithäufigsten richten sie sich gegen angeborene genetische Störungen (7). Insgesamt werden sie das Behandlungsspektrum von 42 Krankheiten erweitern.
Ein großer Teil der identifizierten Erkrankungen betrifft zwischen 1.000 und 10.000 GKV-Patienten. Sechs der neuen Gentherapien richten sich gegen extrem seltene Leiden mit weniger als 100 Betroffenen. In Entwicklung sind auch drei Gentherapien gegen sogenannte Volkskrankheiten, etwa gegen Arthrose.
Lücken bei der Zuteilung von Finanzmitteln an die Krankenkassen
Die Finanzierung dieser Behandlungen ist derzeit über den Gesundheitsfonds, aus dem Krankenkassen die Mittel für ihre Versicherten erhalten, nur unzureichend abgedeckt. Kassen bekommen dabei für insgesamt 80 Erkrankungen über den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) gesonderte Zuweisungen für Versicherte, die an sehr kostenintensiven, chronischen oder schwerwiegenden Krankheiten leiden. Die in der Studie identifizierten Erkrankungen sind aktuell im Morbi-RSA allerdings nicht oder lediglich ungenau abgebildet. „Auch wenn hinsichtlich der genauen Anzahl von Zulassungen langwirksamer Gentherapien, dem Ausmaß ihrer Anwendung sowie den genauen Behandlungskosten aktuell noch Unsicherheit bestehen, ist mit zahlreichen Markteinführungen in den nächsten Jahren sowie signifikanten ökonomischen Herausforderungen für das GKV-System zu rechnen,“ sagt Studienautor Fabian Berkemeier, Bereichsleiter Value & Access Strategy am IGES Institut. Dies gelte es, frühzeitig zu adressieren und die bereits bestehenden Diskussionen über die Weiterentwicklung des Morbi-RSA zu forcieren.
Internationale Datenbanken zu klinischer Forschung ausgewertet
Für die Prognose, die im Auftrag des Unternehmens Merck entstand, werteten die IGES-Experten internationale Studienregister und Datenbanken zu klinischen Studien aus. Sie identifizierten sämtliche langwirksamen Gentherapien, die bereits zugelassen sind oder sich in der fortgeschrittenen Entwicklung (Phase III) befinden, sowie die damit behandelbaren Erkrankungen. Anschließend schätzten sie die Anzahl der potenziell betroffenen GKV-Versicherten.
Hintergrund: Nach mehr als 50 Jahren gentechnischer Grundlagenforschung erhielt das erste Gentherapeutikum in Europa im Jahr 2012 die Zulassung. Es diente zur Behandlung einer angeborenen Fettstoffwechsel-Krankheit, befindet sich jedoch derzeit nicht mehr auf dem Markt. 2015 und 2016 folgten zwei Therapien, eine kurzwirksame gegen schwarzen Hautkrebs (Melanom) und eine langwirksame gegen einen schweren, angeborenen Immundefekt. Im August 2018 wurden zwei weitere langwirksame Therapien zur Behandlung von bestimmten Patienten mit akuter Leukämie und malignen Lymphomen zugelassen. Bei Gentherapien wird entweder ein funktionales Gen einer Zelle hinzugefügt, ein fehlerhaftes Gen korrigiert oder ein natürliches Gen modifiziert, um eine bestimmte Funktion zu erfüllen. Gentherapeutika unterliegen auf europäischer Ebene einem spezifischen Zulassungsverfahren.
Mehr Informationen und Infografik unter: www.iges.com/gentherapien
Über das IGES Institut: Forschen – Entwickeln – Beraten für Infrastruktur und Gesundheit
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