Berlin – 45 Prozent der 1,5 Millionen Beschäftigten in deutschen Krankenhäusern sind Pflegekräfte.1 Für eine qualifizierte Patientenversorgung ist ihr täglicher unermüdlicher Einsatz unverzichtbar. Dem gegenüber steht der Personalmangel in den Pflegeberufen: Im Jahr 2020 gab es für 100 gemeldete offene Stellen 47 arbeitssuchende Krankenpflegekräfte.2 Diese Situation werden weder intensive Personalwerbung noch gesteigerte Ausbildungszahlen alleine beheben können. Dafür braucht es eine grundlegend verbesserte Arbeitsqualität in der Pflege: Arbeitsbedingungen, die dazu führen, dass Pflegekräfte im Beruf bleiben, in den Beruf zurückkehren und Teilzeitstellen aufstocken. Dafür muss vor allem die Pflegepersonalbesetzung am tatsächlichen Pflegebedarf der Patient:innen ausgerichtet sein. Die Voraussetzung dafür ist eine wissenschaftlich fundierte Pflegepersonalbedarfsbemessung im Krankenhaus. Der Koalitionsvertrag sieht dazu die zeitnahe Einführung des von DKG, DPR und ver.di entwickelten Instruments PPR 2.0 vor.
PPR 2.0: Defizit bei Berücksichtigung des Qualifikationsmix
„Die PPR 2.0 ist ein erster Schritt, doch sie ist nur als Interimslösung gedacht“, betont Christoph Radbruch, Vorsitzender des Deutschen Evangelischen Krankenhausverbandes (DEKV). Mit dem Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz (GVWG) hat die Selbstverwaltung den Auftrag erhalten, bis Ende 2024 ein wissenschaftlich fundiertes Verfahren zur einheitlichen Bemessung des Pflegepersonalbedarfs zu entwickeln und zu erproben (§ 137k SGB V). Die europaweite Ausschreibung für den Entwicklungsauftrag wird im Laufe des Januars starten.
Die Interimslösung PPR 2.0 sehen Diakonie Deutschland und DEKV differenziert: Positiv ist, dass der Pflegekomplexmaßnahmen-Score (PKMS) und der Barthel-Index in die PPR 2.0 eingebunden sind. Die Bedarfe vulnerabler Gruppen, beispielsweise kognitiv oder motorisch eingeschränkter Menschen, müssen bei der Pflegebedarfsbemessung unbedingt berücksichtigt werden. Grundsätzlichen Nachbesserungsbedarf gibt es bei der Berücksichtigung des Qualifikationsmix der Pflegeprofessionen. In ihrer jetzigen Form ermittelt die PPR 2.0, wie viel Zeit die Pflege eines Patienten beansprucht. Welche Qualifikation die Pflegekraft für diese Leistung benötigt, fließt nicht ein. Die Grundpflege, wie beispielsweise die Körperpflege, kann durch Hilfskräfte qualifiziert ausgeführt werden. Die vorbehaltenen Tätigkeiten, Planung, Steuerung und Evaluation des Pflegeprozesses hingegen dürfen nur von dreijährig ausgebildeten oder studierten Pflegefachkräften durchgeführt werden. Für hochkomplexe Versorgungsprozesse, beispielsweise das Wundmanagement, werden darüber hinaus entsprechende Fort- und Weiterbildungen benötigt.
„Ich hätte mir gewünscht, dass die Erfassung des Qualifikationsmix bereits bei Entwicklung der PPR 2.0 Berücksichtigung gefunden hätte. Nur wenn bei der Bestimmung des Pflegepersonalbedarfs die Qualifikation der Pflegekräfte einfließt, können die Qualität der Pflege gesichert und Pflegekräfte entsprechend ihrer Befähigungen eingesetzt werden, womit sie auch Wertschätzung für ihre Kompetenzen erfahren. Das würde auch die akademische Pflege stärken“, sagt Maria Loheide, Vorständin Sozialpolitik der Diakonie Deutschland. „Für die Krankenhäuser bietet der ermittelte Qualifikationsmix zudem die Möglichkeit, Personalmanagement und Personalentwicklung noch gezielter am Versorgungsbedarf auszurichten“, ergänzt Radbruch. „Der Qualifikationsmix in der Pflege muss bei der Entwicklung der zukünftigen Pflegebedarfsbemessung unbedingt einfließen“, fordert Loheide.
Keine Einführung der PPR 2.0 ohne ausreichenden Praxistest
In einem siebentägigen Pre-Test in 44 deutschen Krankenhäusern im November 2019 wurden Handhabbarkeit und Umsetzbarkeit der PPR 2.0 überprüft.3 „Welche Herausforderungen bei einer deutschlandweiten, verpflichtenden Einführung auf die Krankenhäuser zukommen, lässt sich aufgrund der sehr kurzen Erprobungsdauer und der nicht-repräsentativen Stichprobe aus dem Pre-Test nicht mit Sicherheit ableiten“, gibt der DEKV-Vorsitzende zu bedenken. Die Vorgängerversion PPR wird zwar vielfach noch eingesetzt, inzwischen werden aber auch andere Instrumente wie die Leistungserfassung in der Pflege (LEP) verwendet. Wie sich die Umstellung in diesen Krankenhäusern darstellt, bleibt abzuwarten, dort muss die PPR 2.0 in die IT-Systeme, Prozesse und Arbeitsabläufe neu integriert werden. Die Anwendungsvorschrift, die wichtige Belange wie beispielsweise das Ausfallmanagement regelt, war ebenfalls nicht Teil des Pre-Tests. „Der Einführung der PPR 2.0 sollte daher ein ausreichend langer, repräsentativer Praxistest vorausgehen“, fordert Radbruch.
Hintergrund zur PPR 2.0:
Die PPR 2.0 ist eine Weiterentwicklung der Pflegepersonal-Regelung, die von 1993 bis 1997 in allen deutschen Krankenhäusern verpflichtend angewendet wurde. Die Ermittlung des Pflegebedarfs erfolgt über die Einstufung der Patient:innen in Schweregradgruppen. Jeder Schweregradgruppe ist ein täglicher Zeitaufwand zugeordnet, administrative und organisatorische Tätigkeiten, Aufnahme und Entlassung von Patient:innen werden durch pauschale Grund- und Fallwerte erfasst. Die Summe aller Zeitwerte wird in einen Personalbedarf umgerechnet. Dabei wird der Pflegepersonalbedarf eines Jahres aus dem Pflegebedarf des Vorjahres errechnet, modifiziert durch absehbare Änderungen der Patientenzahl. Die Zuteilung des so ermittelten Personals für das gesamte Krankenhaus auf die jeweiligen Stationen erfolgt durch das Pflegemanagement.
Für die Nachtschicht ist die PPR 2.0 nicht geeignet, es gilt daher eine einheitliche Pflegepersonaluntergrenze auf allen Stationen. Die PPR 2.0 ist in der Kinderheilkunde und auf der Intensivstation nicht anwendbar und wird daher durch die Instrumente Kinder-PPR für Patient:innen unter 18 Jahren und INPULS für die Intensivstationen ergänzt.
Eine von DKG, DPR und ver.di im Dezember 2020 vorgelegte Anwendungsvorschrift zur PPR 2.0 regelt Details zum erfassten Personal, den Anwendungsbereichen, der Berechnung des Personalbedarfs und zu Maßnahmen zum Personal-und Ausfallmanagement.
Hintergrund zum Auftrag zur Entwicklung einer Pflegepersonalbedarfsbemessung § 137k SGB V:
Mit dem Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz (GVWG) vom 11. Juli 2021 haben die Selbstverwaltungspartner Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) und der Spitzenverband Bund der Krankenkassen (GKV-SV) gemeinsam mit dem Verband der Privaten Krankenversicherung (PKV) den Auftrag erhalten, die wissenschaftliche Entwicklung und Erprobung eines Pflegebedarfsbemessungsinstruments für das Krankenhaus zu veranlassen. Der entsprechende § 137k SGB V gibt weiterhin vor, dass die Entwicklung auf Kosten der Selbstverwaltungspartner bis 31. Dezember 2024 abgeschlossen sein muss. Die europaweite Ausschreibung startet im Januar mit dem Ziel der Auftragsvergabe bis 30. Juni 2022. Erfolgt dies nicht, ist das Bundesministerium für Gesundheit berechtigt, den Auftrag auf Kosten der Selbstverwaltungspartner selbst zu vergeben.
Quellen:
1. Sonderauswertung für den DEKV vom 18.05.2021: Statistik der Bundesagentur für Arbeit, Auftragsnummer: 316550 Beschäftigte in ausgewählten Tätigkeiten (KldB 2010) x ausgewählten Wirtschaftszweigen WZ 2008; Oktober 2020
2. Arbeitsmarktsituation im Pflegebereich, Bundesagentur für Arbeit Statistik/Arbeitsmarktberichterstattung, Mai 2021
3. Fleischer S.: Pre-Test einer modernisierten Pflegepersonal-Regelung für Erwachsene. Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft; Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 25.06.2020
Die Diakonie ist die soziale Arbeit der evangelischen Kirchen. Bundesweit sind 599.700 hauptamtliche Mitarbeitende in rund 33.031 ambulanten und stationären Diensten der Diakonie wie Pflegeheimen und Krankenhäusern, Beratungsstellen und Sozialstationen mit 1,2 Millionen Betten/Plätzen beschäftigt. Der evangelische Wohlfahrtsverband betreut und unterstützt jährlich mehr als zehn Million Menschen. Etwa 700.000 freiwillig Engagierte sind bundesweit in der Diakonie aktiv.
Der Deutsche Evangelische Krankenhausverband e.V. (DEKV) vertritt mit 199 evangelischen Kliniken an 273 Standorten jedes neunte deutsche Krankenhaus. Die evangelischen Krankenhäuser versorgen jährlich mehr als 2 Mio. Patientinnen und Patienten stationär und mehr als 3,5 Mio. ambulant. Das ist bundesweit mehr als jeder 10. vollstationäre Patient. Mit über 123.000 Beschäftigten und einem Umsatz von mehr als 10 Mrd. € sind sie ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Der DEKV ist der Branchenverband der evangelischen Krankenhäuser und Mitglied im Evangelischen Werk für Diakonie und Entwicklung e.V. sowie im Vorstand und im Präsidium der Deutschen Krankenhausgesellschaft. Der DEKV setzt sich insbesondere für eine zukunftsorientierte und innovative Krankenhauspolitik mit Trägervielfalt und Qualitätswettbewerb, verlässliche Rahmenbedingungen für die Krankenhausfinanzierung, eine Modernisierung der Gesundheitsberufe und eine konsequente Patientenorientierung in der Versorgung ein.
Vorsitzender: Vorsteher Christoph Radbruch, Magdeburg, stellvertr. Vorsitzende: Andrea Trenner, Berlin, Schatzmeister: Dr. Holger Stiller, Düsseldorf, Verbandsdirektorin: Melanie Kanzler, Berlin