München – In einer absolut lesenswerten Publikation im renommierten European Journal of Nutrition gehen niederländische (Ernährungs)Wissenschaftler im Juli 2017 hart mit ihrem Forschungszweig ins Gericht, der Titel lautet: „Capable and credible? Challenging nutrition science“. Sie stellen demnach nicht nur die Frage in den Raum, ob Ernährungsforschung noch „fähig und glaubwürdig“ ist, sondern sie beantworten sie gleich im Titel der Publikation selbst: es ist eine sehr sehr schwierige Herausforderung den beiden Attributen gerecht zu werden, denn die Forscher konstatieren …
„Ernährungswissenschaft …
… scheint in einer Krise zu stecken …
… sieht sich mit öffentlicher Zurückhaltung konfrontiert, ihren wissenschaftlichen Ergebnissen Vertrauen zu schenken …
… trifft auf systemimmanente Grenzen …
… blickt den Limitierungen ihrer Fähigkeiten und Glaubwürdigkeit entgegen, die ihren gesamtgesellschaftlichen Wert behindern/schmälern …
… ist in einem Teufelskreis gefangen …“
Das ist Klartext. Die Höllander waren zwar nicht bei der WM 2018 dabei, aber sie haben klar erkannt, dass der „Ökotrophologiekarren“ in einer Sackgasse mit Vollkaracho gegen die Wand brettert (und dort zerschmettert?). Dementsprechend fordern die Autoren ihre Wissenschaftskolleg*innen fachübergreifend auf, sich daran zu beteiligen, die massiven Limitierungen aufzuzeigen und offen anzusprechen um einen Weg aus der ausweglosen Situation, aus der Totalblockade, aus dem Stillstand zu finden („…escape the current deadlock…“). Dazu führen Sie im Anschluss zahlreichen Ebenen auf, wo die „Neo-Ökotrophologie“ Lösungen erarbeiten muss, um zukunftsfähig zu bleiben. Ihr Fazit lautet:
„Ernährungsforschung muss aktiv nach neuen innovativen Konzepten suchen, um die Auswirkungen der Ernährung auf die Gesundheit des Menschen im realen Leben künftig ganz genau zu analysieren – und das in Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaftsdisziplinen als ´Co-Creators` einer neuen Ernährungswissenschaft. Die Neuerfindung der Ernährungswissenschaft wird ein Experiment im echten Leben.“ [32]
„Gesunde Ernährung? Kann man nicht so genau definieren“
Neuerfindung – ok. Aber was soll eigentlich neu erfunden werden? Was ist denn „gesunde Ernährung“ heutzutage? Ach wie gut, dass jemand weiß, warum das niemand weiß – so erklärte der wissenschaftliche Vorstand des DIfE (Deutsches Institut für Ernährungsforschung), Prof. Tilman Grune, im August 2016: „Gesunde Ernährung kann man gar nicht so genau definieren.“ [33] Sein Kollege Prof. Achim Bub vom Max-Rubner-Institut (MRI), dem Bundesforschungsinstitut für Ernährung und Lebensmittel in Karlsruhe, stellte nur einen Monat später klar: „Wir wissen herzlich wenig über Ernährung.“ [34]. Dr. Walter Burghardt, Ernährungsmediziner am Universitätsklinikum Würzburg und Vorstandsmitglied im Bundesverband deutscher Ernährungsmediziner konkretisierte kurz danach: „Wissen wir denn tatsächlich so genau, was wir brauchen? So weit ist die Medizin noch nicht.“ [35] Dieses Kernproblem des „fehlenden Wissens“ ist grenzübergreifend bekannt und benannt: „Einerseits wird ständig propagiert, wie wichtig eine gesunde Ernährung ist. Auf der anderen Seite hat die Ernährungswissenschaft bis heute keine schlüssigen Studien für die optimale Ernährung vorgelegt“, mahnte Prof. Jürgen König, Leiter Ernährungswissenschaften, Universität Wien im Oktober 2016 [36]. Sein österreichischer Kollege Prof. Gerald Gartlehner, Leiter des Departments für Evidenzbasierte Medizin (EbM) der Donau-Uni Krems, erklärt die zwei wesentlichen Gründe für diesen Mangel an schlüssigen Studien: „Gute Ernährungsstudien sind sehr schwierig durchzuführen, da viele unterschiedliche Faktoren einen Einfluss haben und das Ergebnis verzerren können. Wir wissen etwa, dass Menschen, die sich ausgewogen ernähren, auch eher Sport treiben und mehr auf ihre Gesundheit achten. Zudem fehlt es in diesem Bereich an finanzieller Power.“ [37] Und so fragte die FAZ zu Recht: Was ist denn nun wirklich ein gesundes Essen für den Normalbürger? „Tatsächlich weiß das auch heute niemand“, erklärte der Ernährungsmediziner Prof. Hans Konrad Biesalski von der Universität Hohenheim im September 2017 [38]
„Folgen Sie dem Gespür für den eigenen Körper“
Dementsprechend dünn ist auch das Fazit zu gesunder Ernährung von Experten der Hochschule Fulda: So erklärt Prof. Christoph Klotter: „Meiner Meinung nach kann heutzutage ohnehin keine allgemeine Ernährungsempfehlung mehr ausgesprochen werden. Jeder Organismus verstoffwechselt Nahrung unterschiedlich.“ Und weiter: „Es ist schwierig, genau zu sagen, was gesunde Ernährung ausmacht und was nicht. Viele vermeintliche Erkenntnisse sind ins Schwanken geraten … Daher können wir nicht sagen, was alle Menschen unbedingt zu sich nehmen sollen.” Für Haller ist es daher das „Gebot der Stunde“, überhaupt keine spezifischen Ratschläge in Sachen gesunder Ernährung zu geben [39]. Statt Regeln empfiehlt Klotter: „Wenn jeder für sich herausfindet, was gut für ihn ist, finde ich das fantastisch.” [40, 41] Seine Fuldaer Hochschulkollegin Kollegin Prof. Jana Rückert-John, ergänzt: „Was am Ende dann bleibt, ist sich ausgewogen zu ernähren.“ Dabei solle man von allem essen und die „Lust und den Spaß am Essen im Zuge des ganzen Gesundheitswahns nicht verlieren.“ [42] Wie einfach das geht, erläuterte Dr. Margareta Büning-Fesel, Vorstand des aid infodiensts und Leiterin des von Bundesminister Christian Schmidt 2017 eröffneten „Bundeszentrum für Ernährung“, im Mai 2016: „Ich bin überzeugt davon, dass jeder Mensch in der Lage ist, die für ihn beste Ernährung für sich zu entdecken. In erster Linie sollte man dabei seinem Geschmack folgen. Und dem Gespür für den eigenen Körper.“ [43] Im März 2017 ergänzte Büning-Fesel die eigentliche Gretchenfrage und „die sollte sein: Was ist gut für mich – und was nicht?“ [44] Hingegen sollten „gesundheitsbezogene Aussagen über Ernährung stets mit einer gesunden Portion Skepsis betrachtet werden“, so Dr. Rainer Spenger, Geschäftsführer des österreichischen Vereins für Konsumenteninformation (VKI) [45]. Prof. König bringt es Ende Mai 2017 auf den Punkt: „Wer ein bisschen über seine Ernährung nachdenkt, braucht keine Ernährungspyramide, sondern nur den gesunden Hausverstand.“ [46] Seine Schweizer Kollegin, Prof. Christine Brombach, ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, liefert dazu die passende praktische Empfehlung: „Essen Sie, was Sie wollen, aber in vernünftigen Mengen.“ [47] Das „(vor)letzte Wort“ gebührt SPD-“Gesundheitsminister in spe” Prof. Dr. Karl W. Lauterbach, der im März 2017 auf die Frage eines WDR5-Reporters, ob man sagen könne, „Die einzig sinnvolle Ernährung, die gibt es nicht?“ antwortete: „Das kann man auf jeden Fall sagen. Das ist klar.” [48] Dem stimmt Prof. Klotter unmissverständlich zu: „Es gibt nicht die eine richtige Ernährung für alle.” [49]
Exakt so ist. Es gibt so viele gesunde Ernährungen, wie es Menschen gibt, denn: Jeder Mensch is(s)t anders.
Die Quellen [1-49] können Sie beim Autor anfordern: Uwe Knop ist Ernährungswissenschaftler, Publizist und Buchautor. Seit mehr als 10 Jahren bildet die objektiv-ideologiefreie Analyse tausender aktueller Ernährungsstudien den Kern seiner unabhängigen Aufklärungsarbeit. Sein Engagement hat den mündigen Essbürger mit eigener Meinung zum Ziel, der umfassend informiert selbst und bewusst entscheidet, ob er bei der wichtigsten Hauptsache der Welt – genussvolles Essen zur Lebenserhaltung – auf seinen Körper hört und seinem intuitiven Ernährungsnavigator vertraut. Im Juli 2019 erschien sein jüngstes Buch „DEIN KÖRPERNAVIGATOR zum besten Essen aller Zeiten“.