München – Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) und die Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG) haben ihre vollständig überarbeitete S1-Leitlinie veröffentlicht. Sie ersetzt die Fassung von 2018; wichtige Neuerungen betreffen unter anderem die Akuttherapie mit den Substanzklassen der Gepante und Ditane. Bedeutsam ist die aktuelle Empfehlung der Leitlinie zur Prophylaxe: Laut den Fachgesellschaften werden die Möglichkeiten der medikamentösen Prophylaxe zu wenig ausgeschöpft. Die Leitlinie rät jetzt dazu, eine vorbeugende Therapie immer von Schwere und Dauer der Erkrankung sowie den Lebensumständen abhängig zu machen. Als nicht-medikamentöse Optionen nennt die Leitlinie erstmals die externe Stimulation des Trigeminusnervs sowie digitale Anwendungen, etwa Apps.
Unter den Erkrankungen mit hoher Krankheitslast steht die Migräne weltweit auf Rang zwei: Die Patientinnen und Patienten leiden unter erheblich verminderter Lebensqualität, fehlen oft im Beruf und schränken Sozialkontakte ein. Ziel der Therapie ist es daher, Frequenz, Stärke und Dauer der Attacken zu vermindern. Trotzdem wird die Migräne oft falsch diagnostiziert und unzureichend behandelt, so PD Dr. Tim Jürgens von der DMKG in Güstrow. Dabei sind viele Deutsche betroffen: Laut Robert-Koch-Institut leiden zwischen 15,6 Prozent und 24 Prozent der Frauen sowie 4 bis 11 Prozent der Männer unter Migräne. Um die Versorgung der Betroffenen zu verbessern, wurde die S1-Leitlinie zur Therapie der Migräne und Prophylaxe der Kopfschmerzattacke seit 2018 umfassend überarbeitet und um die aktuelle Evidenz ergänzt. Sie erhöht die Therapiesicherheit, zeigt das volle Behandlungsspektrum und bietet klare Orientierung für Behandelnde in den Bereichen Neurologie, Schmerztherapie und Allgemeinmedizin. Herausgeber sind die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) und die Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG) zusammen mit der Österreichischen Kopfschmerzgesellschaft (ÖKSG) und der Schweizerischen Kopfwehgesellschaft (SKG).
Akute Migräne: Neue Substanzen erweitern Therapiemöglichkeiten
Für Menschen mit einem Risiko für Schlaganfall oder Herzinfarkt empfiehlt die neue Leitlinie die Substanzklassen der Ditane (Lasmiditan). Als neue Substanzklasse in der Akuttherapie stehen außerdem nun die Gepante (Rimegepant) zur Verfügung. Sie wurden 2022 in der EU neu zugelassen, beide greifen kausal in die spezifischen Pathomechanismen des Migränekopfschmerzes ein. Ditane setzen dabei, anders als die bewährten Triptane, nur an einem einzigen Rezeptor an. Dessen Aktivierung führt nicht dazu, dass sich die Blutgefäße verengen – die bekannte Nebenwirkung der Triptane. Letztere sind bei den genannten Risikogruppen kontraindiziert. Ditane wirken dagegen hochselektiv und unterbrechen die Freisetzung vonpronozizeptiven Neurotransmittern. Damit werden die Möglichkeiten der Akuttherapie erheblich erweitert. Gepante, die zweite der neu zugelassenen Substanzklassen, ähneln in ihrer Wirkung eher den monoklonalen CGRP-Antikörpern: Sie sind kleine Moleküle und docken spezifisch am CGRP-Rezeptor an. Damit blockieren sie die Effekte des Neurotransmitters CGRP, der im Migräneanfall eine wesentliche Rolle spielt. Die Markteinführung beider Substanzklassen wird 2023 erwartet.
Prophylaxe: Konsens für längere Dauer und individuelle Therapie
Wer unter häufigen Migräneattacken leidet, benötigt neben der Akuttherapie eine individuell angepasste Prophylaxe, auch um der Gefahr eines Übergebrauchs von Akutmedikamenten und der Chronifizierung des Kopfschmerzes zu entgehen. Hier bricht die Leitlinie mit einem Dogma: der bisherigen Praxis, eine medikamentöse Prophylaxe nach nur sechs bis neun Monaten zu überprüfen und maximal 12 Monate durchzuführen. „Für Patientinnen und Patienten mit längerer Migräneanamnese und Begleiterkrankungen wie Depression oder Angststörung können 12, 24 oder sogar mehr Monate Prophylaxe nötig sein“, so Dr. Jürgens. Die neue Position geht zurück auf das aktuelle Konsensusstatement der Fachgesellschaften von Oktober 2022. Entsprechend empfiehlt die neue Leitlinie, eine vorbeugende Therapie immer von der Schwere und Dauer der Erkrankung sowie den persönlichen Kontextfaktoren abhängig zu machen. Neben den unspezifischen Medikamenten zur Migräneprophylaxe wie Betablocker oder Amitriptylin stehen bereits drei monoklonale CGRP(R)-Antikörper zur Verfügung. Seit 2022 ist ein vierter Antikörper, Eptinezumab, verfügbar. Als erster monoklonaler Antikörper wird er intravenös gegeben und erreicht daher schnell den therapeutischen Wirkstoffspiegel.
Nicht-medikamentöse Verfahren: Trigeminusstimulation hilft
Die Leitlinienkommission betont ausdrücklich die Bedeutung nicht-medikamentöser Therapien. Neben bewährten Maßnahmen wie Ausdauersport und Entspannungstechniken sowie der Verhaltenstherapie steht jetzt die nicht-invasive Neurostimulation des Trigeminusnervs zur Verfügung. Der externe transkutane Reiz erfolgt über Klebeelektroden an der Stirn und hat sich gegen eine Scheinanwendung als wirksam erwiesen. Die Trigeminusstimulation eignet sich vor allem für Patientinnen und Patienten, die keine Medikamente nehmen wollen, allerdings tragen Krankenkassen bisher die Kosten nicht. Liegt bei chronischer Migräne eine Therapieresistenz vor, ist die Neurostimulation nicht geeignet. Hier sollte unbedingt eine neurologische Mitbetreuung erfolgen.
Ergänzt wurden die nicht-medikamentösen Verfahren um digitale Anwendungen, darunter telemedizinische Angebote zu Diagnostik und Therapie sowie Smartphone-Applikationen. Diese können als Kopfschmerztagebuch konzipiert sein, andere enthalten auch therapeutische Hinweise, etwa zur Entspannung. Laut Leitlinie ist aber die klinische Effektivität dieser digitalen Anwendungen noch nicht abschließend belegt.
Leitlinien: Wissen mit Methode
Die Therapiesicherheit für Patientinnen und Patienten steht im Vordergrund jeder medizinischen Leitlinie. Daher gibt es zu allen genannten Verfahren, Medikamenten und Wirkstoffen detaillierte Hinweise zu Gegenanzeigen, Nebenwirkungen und Verträglichkeit sowie zum Therapieverlauf. Ärztinnen und Ärzte arbeiten damit wissenschaftlich fundiert und nach den neuesten Erkenntnissen. Insgesamt 34 Autorinnen und Autoren waren an der Neufassung der S1-Leitlinie 2022 beteiligt, federführend Prof. Dr. Hans-Christoph Diener, Essen, PD. Dr. Stefanie Förderreuther, München und Prof. Dr. Peter Kropp, Rostock. Grundlage der Arbeit ist das Delphi-Verfahren: Es sichert die Qualität evidenzbasierter Empfehlungen durch einen Konsens ausgewiesener Expertinnen und Experten und ist international anerkannt. Eine Finanzierung der Leitlinienarbeit durch Dritte erfolgte zu keiner Zeit, auch haben Autoren und Autorinnen mit möglichen Interessenkonflikten nicht an den jeweiligen Kapiteln mitgearbeitet oder sich in der Delphi-Abstimmung enthalten.
Die Aufzeichnung der Pressekonferenz finden Sie hier.
Die Folien der Referierenden stehen Ihnen hier zum Download zur Verfügung.
Quellen
[1] Diener HC, Förderreuther S, Kropp P et al., Therapie der Migräneattacke und Prophylaxe der Migräne, S1-Leitlinie, 2022, in: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Online: www.dgn.org/leitlinien
[2] Goßrau G, Förderreuther S, Ruscheweyh R, Ruschil V, Sprenger T, Lewis D, Kamm K, Freilinger T, Neeb L, Malzacher V, Meier U, Gehring K, Kraya T, Dresler T, Schankin CJ, Gantenbein AR, Brössner G, Zebenholzer K, Diener HC, Gaul C, Jürgens TP. Konsensusstatement der Migräne- und Kopfschmerzgesellschaften (DMKG, ÖKSG & SKG) zur Therapiedauer der medikamentösen Migräneprophylaxe [Consensus statement of themigraine and headache societies (DMKG, ÖKSG, and SKG) on the duration of pharmacological migraineprophylaxis]. Nervenarzt. 2022 Oct 26. German. doi: 10.1007/s00115-022-01403-1. Epub ahead of print. PMID:36287216
Zur besseren Lesbarkeit wurde teilweise auf die geschlechtsspezifische Schreibweise verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind geschlechtsneutral zu verstehen.
Die Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft e.V. (DMKG, www.dmkg.de) ist seit 1979 die interdisziplinäre wissenschaftliche Fachgesellschaft für Kopf- und Gesichtsschmerzen, in der Ärzte, Psychologen, Physiotherapeuten, Pharmakologen und Apotheker organisiert sind. Der unabhängige und gemeinnützige Verein setzt sich für die Verbesserung der Therapie der vielen Millionen Betroffenen in Deutschland mit akuten und chronischen Kopfschmerzen ein. Die Fachgesellschaft fördert die Forschung und organisiert Fortbildungen für medizinische Fachberufe sowie einmal jährlich den Deutschen Schmerzkongress gemeinsam mit der Deutschen Schmerzgesellschaft. Die DMKG ist Mitglied in der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) und in der Weltkopfschmerzgesellschaft (International Headache Society).
Mit der Initiative »Attacke! Gemeinsam gegen Kopfschmerzen« verhilft die DMKG Kopfschmerzerkrankungen zu mehr Aufmerksamkeit. Die Initiative wird finanziell unterstützt von den Unternehmen Allergan an AbbVie Company, Lilly Deutschland, Novartis Pharma und Teva. Alle fachlichen Inhalte sind von Expertinnen und Experten aus den Reihen der unabhängigen DMKG ehrenamtlich verfasst und nicht von Werbebotschaften beeinflusst.