Berlin – Das Bundesministerium für Gesundheit schätzt ein, dass in Deutschland 1,4 bis 1,9 Mio. Menschen medikamentenabhängig sind, davon 1,1 Mio. von Benzodiazepinen. Demnach sind mehr Menschen von Medikamenten abhängig als vom Alkohol. Mit einem Anteil von 70 % sind Frauen überdurchschnittlich häufig betroffen. Darüber hinaus steigt der problematische Gebrauch von Medikamenten statistisch gesehen mit zunehmendem Alter kontinuierlich an.
So weit verbreitet die Problematik ist, so wenig spiegelt sie sich in der Inanspruchnahme von Hilfen wieder. Im Jahr 2008 nahmen in Berlin nur 25 Menschen mit der Hauptsuchtdiagnose Medikamentenabhängigkeit ambulante Beratung in Anspruch, gegenüber 5.141 Alkoholabhängigen. Stationär wegen ihrer Medikamentenabhängigkeit behandelt wurden im selben Zeitraum 8 Personen gegenüber 742 Alkoholabhängigen.
Die Gründe dafür, dass Medikamentenabhängigkeit auch die stille Sucht genannt meist unerkannt und unbehandelt bleibt, sind vielfältig. Man merkt den Betroffenen ihre Abhängigkeit häufig nicht an und die Tatsache, dass Medikamente in der Regel aufgrund bestehender Beschwerden eingenommen und meist sogar ärztlich verordnet werden, erschwert die Entwicklung eines Problembewusstseins hinsichtlich Missbrauch und Abhängigkeit.
So facettenreich sich die Problematik darstellt, so vielfältig sind auch die Zielgruppen der Prävention. Ebenso wichtig wie die Aufklärung der Menschen über das Abhängigkeitsrisiko, das mit einer regelmäßigen Einnahme diverser Präparate einhergeht, ist es, vor allem die Berufsgruppen, die nahezu zwangsläufig mit dieser Problematik in Berührung kommen, z. B. Mediziner/innen und Apotheker/innen, für dieses Thema zu sensibilisieren, betont Kerstin Jüngling, Leiterin der Fachstelle für Suchtprävention im Land Berlin.
Aus diesem Grund hatte die Beratungsstelle Frauen-Alkohol-Medikamente & Drogen (FAM), die seit Jahren einen fachlichen Schwerpunkt auf die Beratung medikamentenabhängiger Frauen legt und die Fachstelle für Suchtprävention zu einem fachübergreifenden Werkstattgespräch eingeladen, mit dem Ziel, unterschiedliche Perspektiven zusammenzubringen, Schnittstellen deutlich zu machen und Ideen für die Zukunft zu entwickeln. Teilgenommen haben Vertreter/innen aus z. B. Alkohol- und Medikamentenberatungsstellen, Kliniken, der Apothekerschaft, Krankenkassen sowie aus weiteren Einrichtungen und Diensten, die potenziell mit missbräuchlich oder abhängig Medikamente konsumierenden Menschen zu tun haben (Altenpflegeheime, Pflegedienste, Migrant/innenorganisationen, etc.).
Ergebnisse dieses interdisziplinären Fachgespräches waren u. a. Maßnahmen zur Intensivierung der Kooperation zwischen Krankenhäusern und Altenpflegeeinrichtungen mit Medikamentenberatungsstellen und Apotheken, Sensibilisierung und Fortbildung der betreffenden Berufsgruppen oder das Einführen von Warnhinweisen auf Medikamentenpackungen.
Der Austausch zwischen den verschiedenen Arbeitsfeldern ist sehr wichtig, findet der Präsident der Apothekerkammer Berlin Dr. Christian Belgardt, der ebenfalls an dieser Berliner Veranstaltung mitgewirkt hat: Je besser Apotheker/innen um die Problemstellungen wissen, umso besser können sie intervenieren und zur Inanspruchnahme von Hilfen motivieren. Dies wünschen sich auch die Beratungsstellen und wollen darüber hinaus verstärkt dazu beitragen, Betroffene besser und früher zu erreichen. Medikamentenabhängige begreifen sich häufig nicht als süchtig und suchen deshalb auch keine Suchtberatungsstelle auf. Durch Angebote im Lebensumfeld, beispielsweise von Informationsveranstaltungen zum Thema ‘Medikamente – Wirkungen und Nebenwirkungen’ in Stadtteilzentren, ist es möglich, unverbindlich mit Betroffenen in Kontakt zu kommen und aufzuklären, wirbt Angelika Vahnenbruck, Geschäftsführerin der Gemeinnützigen Gesellschaft für frauenspezifische, soziale & gesundheitliche Dienstleistungen mbH – La Vida gGmbH.
In der zweiten Jahreshälfte entwickelt eine Berliner Projektgruppe weitere Schritte zur verbesserten Aufklärung und Prävention sowie zur frühen Intervention bei Medikamentenmissbrauch und -abhängigkeit.
Das Werkstattgespräch und die daraus folgenden Aktivitäten sind ein Mut machender Anfang, um der stillen Sucht wirkungsvoll etwas entgegenzusetzen. Das ist enorm wichtig in einer Stadt wie Berlin mit ihrem Stress, ihren sozialen und psychischen Problemen und oft auch ihrer Einsamkeit, stellt Dr. Sibyll Klotz, Stadträtin für Gesundheit u. Soziales in Tempelhof-Schöneberg, fest.
Die Landesdrogenbeauftragte Christine Köhler-Azara betont, dass insbesondere Frauen unter der Abhängigkeit von Medikamenten leiden. Wir brauchen mehr Information und Aufklärung zum Thema, aber der Anfang ist gemacht!
Hinweis an die Redaktion: Die Apothekerkammer Berlin nimmt als Körperschaft des öffentlichen Rechts die beruflichen Belange von rund 4.500 Apothekerinnen und Apothekern wahr. Sie ist die Standesvertretung aller Berliner Apothekerinnen und Apotheker.