Berlin – Sensomotorische Einlagen sind nicht mehr expressis verbis aus dem Hilfsmittelverzeichnis ausgeschlossen. Damit hat der GKV-Spitzenverband in der aktuellen Fortschreibung der PG 08 „Einlagen“ vom 21. Dezember 2020 einen zentralen Änderungsvorschlag der Europäischen Herstellervereinigung für Kompressionstherapie und orthopädische Hilfsmittel, kurz: eurocom, umgesetzt. Geschäftsführerin Oda Hagemeier begrüßt die Streichung des Negativpassus, der für Irritation hinsichtlich der Leistungspflicht bei Kassen, Handwerk und nicht zuletzt beim Patienten geführt hat, als wichtigen Schritt, um der individuellen Versorgungssituation gerechter zu werden: „Die Änderung war überfällig, allein schon, um die gesetzlich geschützte Rechtsposition der Versicherten zu wahren. Patienten, ohnehin schon durch ihr Leiden beeinträchtigt, brachte die vormals explizite Nichtberücksichtigung sensomotorischer Einlagen in die zusätzlich belastende Lage, ihren Leistungsanspruch auf die im individuellen Fall erforderliche Versorgung schlimmstenfalls einklagen zu müssen. Denn mancher Ablehnungsbescheid berief sich fälschlicherweise auf das Hilfsmittelverzeichnis, das jedoch keine Positivliste ist.“
Positiv sieht eurocom außerdem, dass Qualitätsanforderungen teils offener formuliert werden und damit dem aktuellen Stand der Technik besser Rechnung tragen. Allerdings findet dieses Prinzip nicht durchgehend Anwendung. Schwächen zeigt die Fortschreibung auch darin, dass sie konsentiertes Erfahrungswissen und Argumente aus einer lange etablierten Versorgungspraxis unberücksichtigt lässt. Andernfalls hätten diese Änderungsvorschläge umgesetzt werden müssen: die Differenzierung der Indikationen für Bettungs-, Weichpolsterbettungs- und Schaleneinlagen sowie für Einlagen im Sonderbau und die Eröffnung einer eigenen Produktart „Sensomotorische Einlagen“. „Dass diese Argumente nicht einmal aufgegriffen und zumindest zum Zeitpunkt der Veröffentlichung begründet abgelehnt worden sind, zeigt exemplarisch, dass das Stellungnahme- und Anhörungsverfahren zur Fortschreibung des Hilfsmittelverzeichnisses verbesserungsbedürftig ist“, so Hagemeier.
Sensomotorische Einlagen – anerkanntes Wirkprinzip und langjähriger Behandlungserfolg
Zum Hintergrund: Der Stein des Anstoßes liegt in der letzten Fortschreibung der Produktgruppe 08 „Einlagen“ vom 24. Oktober 2016. Dort heißt es in der Definition: „Sensomotorische bzw. propriozeptive Einlagen sind im Hilfsmittelverzeichnis nicht berücksichtigt, da die hierfür erforderlichen Nachweise zum medizinischen Nutzen derartiger Produkte nicht vorliegen und darüber hinaus bei keiner Indikation die Behandlung mit sensomotorischen bzw. propriozeptiven Einlagen als dem allgemeinen Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechend angesehen werden kann.“ Mit diesem Negativpassus überstieg der GKV-Spitzenverband nicht nur seine Kompetenz, sondern ignorierte auch die Erfahrungswerte einer jahrzehntelangen Verordnungs-, Versorgungs- und Vergütungspraxis, in der sensomotorische Einlagen längst Gegenstand von Rahmenverträgen der Kostenträger waren.
Seit über einem Vierteljahrhundert bereits ist die Behandlung von Kindern und Erwachsenen mit sensomotorischen bzw. propriozeptiven Einlagen gelebte Praxis. Diese zeigt: Sensomotorische Einlagen helfen, Fuß- und Beinfehlstellungen zu beheben, Gangbildstörungen zu korrigieren sowie Muskelkoordination, Feinmotorik und Wahrnehmung zu verbessern. Sie lindern Schmerzen, fördern Mobilität und Teilhabe des Patienten, ohne ihm die Belastung einer jahrelangen krankengymnastischen Behandlung, etwa bei Zustand nach Schlaganfall, zuzumuten. Die Indikationsliste ist lang. Das zugrundeliegende sensomotorisch-perzeptive Wirkprinzip, das aus Medizin und Physiotherapie stammt, ist in § 37 der Heilmittel-Richtlinie beschrieben und anerkannt. Die unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und orthopädische Chirurgie erstellte medizinische S2k-Leitlinie „Kindlicher Knick-Senk-Fuß“ (AWMF-Registernummer 033/020) empfiehlt, die Behandlung mit sensomotorischen Einlagen zu bevorzugen.
Oda Hagemeier erklärt: „Aus guten Gründen also war es uns ein wichtiges Anliegen, dass der Passus entfernt wird. Zudem hätten mit der Eröffnung einer eigenständigen Produktuntergruppe Standards für die fachliche Qualifikation und für Ausführungskriterien gesetzt und damit ein Rahmen festgelegt werden können, innerhalb dessen die Versorgung mit sensomotorischen Einlagen erfolgen soll. Dies sind auch die Gründungsmotive unseres verbandsübergreifenden Arbeitskreises ‚Sensomotorische Einlagen‘, den eurocom im März 2018 initiiert hat und an dem neben eurocom als Herstellerverband auch der Zentralverband für Orthopädieschuhtechnik und der Bundesinnungsverband für Orthopädietechnik als Vertreter des Handwerks maßgeblich mitwirken. Gemeinsam sind wir lange vor der erneuten Fortschreibung mit unseren Vorschlägen an den GKV-Spitzenverband herangetreten. Dass nun zumindest der Negativpassus gestrichen worden ist, bestätigt unseren interprofessionellen Einsatz.“
Wirkung als Ergebnis verschiedener Möglichkeiten – Qualitätsanforderungen an Produktarten offener und state of the art formulieren
Materialien und Fertigungsmethoden der Einlagenherstellung entwickeln sich immer weiter, um den Erfordernissen der individuellen Versorgungssituation besser zu entsprechen und auf diese Weise dem Patienten zu nützen. Diesem Umstand trägt die aktuelle Fortschreibung Rechnung, indem sie, bezogen auf das einzusetzende Deck- und Bezugsmaterial, offener formuliert und auf Eigenschaften abzielt statt ein bestimmtes Material vorzuschreiben. Die Würdigung dieses Vorschlags einer offeneren Formulierung findet sich ebenfalls bei der Kantenabpolsterung von Kunststoffeinlagen, die nicht mehr zwangsläufig aus Leder, sondern auch aus vergleichbaren Materialien bestehen kann, um das Schuhwerk ausreichend zu schützen. Dass zeitgemäße Lösungen nicht auch konsequent bei den Fertigungsmethoden berücksichtigt werden, ist nicht nachvollziehbar. Betroffen sind etwa Weichpolsterbettungseinlagen, deren Wirkung an ausschließlich eine Fertigungsmethode, nämlich die der Sandwichbauweise, gebunden wird. Darüber hinaus jedoch existieren neue Fertigungsmethoden, die das Ziel der Druckentlastung durch ihre belastungsmindernden Strukturen (Polyurethan / 3D-Druck) genauso erreichen können. Und auch für den Formabdruck für Sonderanfertigungen gilt, dass er nicht ausschließlich individuell modelliert sein muss, sondern auch auf Basis eines 3D-Scans erfolgen kann. „Unsere Forderung, den aktuellen Stand der Technik in den Produktarten und ihren Anforderungen abzubilden, sehen wir insofern nicht konsequent umgesetzt“, resümiert die eurocom-Geschäftsführerin.
Über eurocom
eurocom ist die Herstellervereinigung für Kompressionstherapie, orthopädische Hilfsmittel und digitale Gesundheitsanwendungen. Der Verband versteht sich als Gestalter und Dialogpartner auf dem Gesundheitsmarkt und setzt sich dafür ein, das Wissen um den medizinischen Nutzen, die Wirksamkeit und die Kosteneffizienz von Kompressionstherapie und orthopädischen Hilfsmitteln zu verbreiten. Zudem entwickelt eurocom Konzepte, wie sich die Hilfsmittelversorgung aktuell und in Zukunft sicherstellen lässt. Dem Verband gehören nahezu alle im deutschen Markt operierenden europäischen Unternehmen aus den Bereichen Kompressionstherapie und orthopädische Hilfsmittel an.