Berlin – Corona-Pandemie reduziert HIV-Testangebote und kann so Spätdiagnosen und HIV-Übertragungen begünstigen. Jetzt alle Möglichkeiten in Prävention und Behandlung konsequent nutzen.
Die Zahl der HIV-Neuinfektionen in Deutschland ist im Jahr 2019 nicht weiter gesunken, sondern leicht angestiegen. Kaum verändert hat sich auch die hohe Zahl der Menschen, die nichts von ihrer Infektion wissen und jener, die deswegen an Aids oder einem schweren Immundefekt erkranken. Das geht aus dem heute veröffentlichten Epidemiologischen Bulletin des Robert Koch-Instituts (RKI) hervor.
Dazu sagt Sven Warminsky vom Vorstand der Deutschen Aidshilfe (DAH):
„Diese Zahlen können uns nicht zufrieden stellen. Es wäre möglich, deutlich mehr HIV-Infektionen und schwere Erkrankungen zu verhindern. Nun drohen stattdessen Rückschritte und Schäden, weil die Corona-Pandemie Lücken bei den Testangeboten reißt. Es gilt jetzt dringend, mit zusätzlichen Ressourcen gegenzusteuern – denn die Corona-Pandemie wird uns noch erhalten bleiben und darf nicht dauerhaft die Maßnahmen gegen HIV behindern.“
Dabei gilt: Je früher eine HIV-Infektion medikamentös behandelt wird, desto besser lässt sich die Gesundheit erhalten. Zugleich ist HIV unter Therapie nicht mehr übertragbar. Testangebote sind daher auch ein wichtiger Bestandteil der HIV-Prävention.
Testangebote für frühe Diagnosen
10.800 Menschen lebten Ende 2019 in Deutschland mit HIV, ohne davon zu wissen, viele bereits seit Jahren. Etwa ein Drittel der HIV-Diagnosen erfolgt erst, wenn bereits eine schwere Erkrankung auftritt. 1.100 Menschen bekommen pro Jahr Aids oder erleiden einen schweren Immundefekt, obwohl es vermeidbar gewesen wäre.
Verfehlt werden damit auch die Ziele von UNAIDS für das Jahr 2020, nach denen mindestens 90% aller HIV-Infektionen diagnostiziert sein sollen (Deutschland Ende 2019: 88 Prozent), davon 90 Prozent eine Therapie erhalten (96%), so dass bei wiederum 90 Prozent HIV im Blut nicht mehr nachweisbar ist (96%).
„Die Stagnation bei den Spätdiagnosen ist tragisch“, konstatiert Sven Warminsky, „hier müssen die Anstrengungen für frühe Diagnosen dringend noch verstärkt werden, zum Beispiel durch Fortbildungen für Ärzt_innen, die HIV als Krankheitsursache oft nicht in Betracht ziehen.“
Leicht zugängliche Testangebote und Testkampagnen haben in den letzten Jahren bereits dafür gesorgt, dass in Großstädten die Zahl der schwulen und bisexuellen Männer, die frühzeitig von ihrer Infektion erfahren, gestiegen ist. Die Zahl der Spätdiagnosen ist in dieser Gruppe gesunken.
Corona verhindert HIV-Tests
Durch die Covid-19-Epidemie sind nun die anonymen Testangebote vielerorts stark eingeschränkt, weil viele Gesundheitsämter aufgrund von Überlastung zurzeit keine Tests auf HIV und Geschlechtskrankheiten anbieten. Aidshilfen mit ihren Checkpoints gleichen diesen Mangel teilweise aus, die Testangebote sind durch die Corona-Bedingungen aber ebenfalls beeinträchtigt.
Zugleich ist die Finanzierung der Testangebote in Aidshilfen in vielen Städten gefährdet: Die Kommunen wollen sie im nächsten Jahr nicht wieder zur Verfügung stellen oder kürzen. Mit den leicht erreichbaren Testangeboten für spezielle Zielgruppen würde ein essenzielles Mittel der erfolgreichen deutschen HIV-Strategie geschwächt.
„Um Aids-Erkrankungen und HIV-Neuinfektionen weiter zu reduzieren, dürfen keine Testangebote wegfallen, sie müssen vielmehr weiter ausgebaut werden“, betont DAH-Vorstand Sven Warminsky im Einklang mit den Empfehlungen des RKI. „Hier stehen Länder und Kommunen in der Verantwortung.“
Das RKI empfiehlt hier außerdem, Selbsttests stärker zu bewerben und Angebote von Einsendetests auszuweiten, wie sie in Deutschland bisher vom Kooperationsprojekt s.a.m health angeboten werden, das die DAH koordiniert.
Menschen ohne Papiere versorgen
Darüber hinaus ist es dringend notwendig, Menschen ohne Aufenthaltspapiere einen Zugang zu medizinischer Versorgung zu ermöglichen. Sie nehmen aus Angst vor Abschiebung oft keine medizinische Hilfe in Anspruch. Das führt zu vermeidbaren Aids-Erkrankungen. Zugleich bleibt HIV ohne Therapie übertragbar, so dass sich auch diese Versorgungslücke auf die Neuinfektionszahl auswirkt. Ebenso müssen Menschen ohne Krankenversicherung unkompliziert Zugang zu einer Behandlung erhalten. Auch das RKI empfiehlt für diese Gruppen zum wiederholten Mal einen „geordneten Zugang zu einer angemessenen HIV-Behandlung.“
Alle Mittel der Prävention ausschöpfen
Die Zahl der Neuinfektionen lag laut RKI im Jahr 2019 bei 2.600, das sind 100 mehr als im Vorjahr. Bei den schwulen und bisexuellen Männern ist die Zahl mit 1.600 Fällen konstant geblieben, der deutliche Rückgang der letzten Jahre hat sich allerdings nicht fortgesetzt.
Einen kontinuierlichen Anstieg gibt es seit 2012 bei Übertragungen durch gemeinsam genutzte Konsumutensilien beim intravenösen Drogenkonsum (360 Neuinfektionen in 2019). Einen Anstieg auf niedrigem Niveau gab es 2019 außerdem durch heterosexuellen Geschlechtsverkehr bei Männern (insgesamt 650 Neuinfektionen in durch heterosexuelle Kontakte).
Dazu DAH-Vorstand Sven Warminsky:
„Wir haben auf einen weiteren Rückgang der Zahlen gehofft. Immerhin zahlen seit letztem Jahr die Gesetzlichen Krankenkassen für die HIV-Prophylaxe PrEP und immer mehr Menschen mit HIV erhalten früh eine Therapie. Doch die Möglichkeiten der Prävention in Deutschland werden bisher nicht voll ausgeschöpft. Es ist dringend an der Zeit, alle wirksamen Methoden auch allen Menschen mit HIV-Risiken anzubieten.“
PrEP allen zugänglich machen
Zum einen muss die medikamentöse HIV-Prophylaxe PrEP noch bekannter und allen Menschen zugänglich gemacht werden, für die sie in Frage kommt. Rund 17.500 Menschen nutzen nach Schätzungen der Deutschen Aidshilfe bisher diese Schutzmethode. Das ist ein Erfolg, doch es könnten noch deutlich mehr sein. In kleineren Städten und ländlichen Regionen gibt es teilweise keine Möglichkeit, sich die PrEP verschreiben zu lassen.
Kommunale Drogenhilfe stärken
Zum anderen muss die Prävention für Drogen konsumierende Menschen verstärkt werden. Der Anstieg in dieser Gruppe hat laut RKI unter anderem mit neuen Substanzen zu tun, die häufig und mit höherer Frequenz als andere injiziert werden.
„Diese Veränderung beim Konsumverhalten ist eine Herausforderung für die Prävention“, betont Warminsky. „Um ihr gerecht zu werden, muss vor allem die chronisch unterfinanzierte kommunale Drogenhilfe gestärkt werden. Es fehlt vor Ort an Mitteln, wirksame Strategien und Angebote in ausreichendem Maße anzubieten.“
Spritzen und Drogenkonsumräume zugänglich machen
Dringend notwendig sind außerdem sterile Konsumutensilien auch in Gefängnissen. Die verbliebenen acht Länder ohne Drogenkonsumräume müssen zudem endlich die Rechtsgrundlage dafür schaffen, dass die Kommunen solche Einrichtungen eröffnen können.
Der Konsum unter sicheren Bedingungen mit sterilen Utensilien ist neben der Substitutionstherapie die wirksamste Form, HIV- und Hepatitis-Infektionen sowie andere Gesundheitsrisiken zu verhindern.
Quellen und weitere Informationen:
HIV-Statistik auf der Website des RKI (inkl. Epidemiologisches Bulletin 48/2020)