Essen – Die Entscheidungsfindung in der Gesundheitspolitik ist alles andere als transparent. Vielmehr ist sie regelmäßig das Ergebnis kleiner politischer Kungelrunden. 84 Prozent aller Abgeordneten geben zu, dass sie keinen Einfluss auf die Gesundheitspolitik haben möglicherweise ein Grund für die vielen Fehlentscheidungen im Gesundheitswesen in den letzten Jahrzehnten. Mit diesem Thema beschäftigt sich die NEUE ALLGEMEINE GESUNDHEITSZEITUNG FÜR DEUTSCHLAND in ihrer März-Ausgabe. Und sie beschreibt die Folgen für Versicherte, Patienten und die Leistungserbringer im Gesundheitswesen. Die NEUE ALLGEMEINE GESUNDHEITSZEITUNG FÜR DEUTSCHLAND ist deutschlandweit kostenlos in Apotheken erhältlich und erscheint monatlich mit einer Auflage von 1 Million Exemplaren.
VON MACHERN UND MITLÄUFERN An verkorksten Gesundheitsreformen sind nicht die Abgeordneten schuld
Wutbürger heißt das Wort des Jahres 2010. Warum? Weil die Bürger sauer sind. Weil drei Viertel von ihnen glauben, dass die Politik sich keinen Deut mehr um die Interessen des Volkes schert. Deshalb zeigen sie ihre Wut. Sie demonstrieren, sie schreiben massenhaft Leserbriefe, sie gehen nicht mehr zur Wahl. Doch interessiert das die Politiker?
Im Prinzip nicht. Politiker haben ihre eigenen Probleme. Das haben die Change-Centre-Foundation und die Universität Düsseldorf gemeinsam in Deupas herausgefunden. Deupas ist die größte Studie, die je in Deutschland über das Denken und Fühlen von Abgeordneten aller Parteien und Parlamente gemacht wurde. Paradox: auch Abgeordnete leiden unter Ohnmachtsgefühlen genau wie die Bürger.
Dramatisch äußern sich diese Ohnmachtsgefühle im Widerspruch zwischen den nach Meinung der Abgeordneten in allen gesellschaftlichen Bereichen notwendigen Veränderungen und dem mangelnden politischen Einfluss, den sie persönlich auf diese Veränderungen haben.
Zum Thema Gesundheitswesen meinen 73,3 Prozent der Abgeordneten, dass Veränderungen im Bereich Gesundheitsversorgung und Prävention wichtig und notwendig sind. Doch nur ganze 16 Prozent sind der Meinung, dass sie auf diese Veränderungen persönlichen Einfluss haben.
Die Entscheidungen treffen demnach andere, nicht die Parlamente in Bund und Ländern. Die segnen nur ab, was an Gesetzen auf den parlamentarischen Tisch kommt.
Die wahren Entscheidungsträger sitzen in kleinen Parteigrüppchen und Koalitionsrunden und Machtzirkeln. Auf dieser Spielwiese der wenigen Macher werden die Weichen gestellt, die Wege vorgegeben, die Kompromisse ausgehandelt. Hier wird um Macht und Einfluss und zukünftige Positionen gepokert. Wer dazugehört, ist in. Das Parlament ist ausgeschaltet, die Abgeordneten sind weit weg.
Das macht die Ergebnisse dieser Kungelrunden nicht besser im Gegenteil. Die unendliche Geschichte verkorkster Reformen, fataler Fehlentscheidungen und unausgegorener Gesetze im Gesundheitswesen spricht für sich.
Die neuesten Reformgesetze das Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes in der gesetzlichen Krankenversicherung (Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz AMNOG) und das GKV-Finanzierungsgesetz (GKV-FinG), mit heißer Nadel gestrickt, machen da keine Ausnahme. Schon jetzt, wenige Wochen nach der Einführung sind Verbesserungen nicht sichtbar, die neuen Belastungen jedoch für alle dramatisch spürbar.
Denn Gesundheitsminister Rösler und seine Mitstreiter hatten es sich einfach gemacht: mit einer Härte sondergleichen erleichterten sie Beitragszahler, Patienten, Arzneimittelhersteller, Apotheker und Großhändler um Milliarden Euro. Um die Beseitigung von Fehlentwicklungen früherer Reformen kümmerten sie sich nicht. Weder wurden das bürokratische Monster Gesundheitsfonds gekippt noch die Pick-up-Stellen geschlossen das sind Abholstellen in Tankstellen, Blumenläden und Drogeriemärkten für im Versandhandel bestellte Medikamente noch wurde den Krankenkassen der Abschluss von Rabattverträgen verboten.
Es lohnt sich, diese letztere Fehlentwicklung genauer zu betrachten. Die Zulassung von Rabattverträgen zwischen Kassen und Pharmaherstellern wurde noch unter rot-grüner Regierungsverantwortung schrittweise in den Reformgesetzen von 2003 bis 2007 eingeführt.
In diesen Rabattverträgen, die seitdem Krankenkassen mit Arzneimittelherstellern schließen dürfen, verpflichten sich Hersteller, den Kassen für bestimmte Medikamente und eine festgelegte Zeit hohe Rabatte zu zahlen. Das bedeutet: Patienten müssen sich immer wieder an neue Bezeichnungen, neue Packungen, neue Tablettenformen, neue Farben, neue Beipackzettel gewöhnen.
Das fällt vielen Kranken nach wie vor unendlich schwer. Nicht nur ältere Menschen reagieren mit Unverständnis und Unsicherheit. Tag für Tag muss auch heute noch in den Apotheken intensive Aufklärungsarbeit geleistet werden. Und nicht nur das die Suche im Computer nach dem richtigen Rabatt-Arzneimittel gerade dieser Krankenkasse und der Aufwand einer überdimensionierten Lagerhaltung für 53 000 Rabattarzneimittel kosten viel Zeit. Die könnte wirkungsvoller für die pharmazeutische Betreuung der Patienten genutzt werden.
Sieben von hundert Patienten nehmen trotz Beratung das neue, ungewohnte Medikament gar nicht mehr ein. Das hat die Bertelsmann-Stiftung in einer Umfrage herausgefunden. Die mit Sicherheit höheren Folgekosten des Therapieabbruchs bis hin zum Krankenhausaufenthalt verschwinden im Nirwana der Kassenausgaben.
Im schlimmsten Falle lebensbedrohend können die Folgen von Verwechslungen von Tabletten sein. Das gilt besonders für ältere Patienten. Sie sind oft auf die Einnahme einer ganzen Reihe von Medikamenten angewiesen. Immer wieder neue Produkte überfordern die Merkfähigkeit. Das WDR-Fernsehen berichtete im September 2010 über einen 80jährigen, der mit lebensgefährlichen inneren Blutungen ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Er hatte ein neues, für die Kasse billigeres Medikament zur Blutverdünnung mit einem harmlosen Magnesium-Präparat verwechselt.
Gefährlich sind aufgezwungene Präparate-Wechsel auch für bestimmte Krankheitsbilder. Prof. Dr. Gerd Glaeske, Pharmazeut und Arzneimittelexperte an der Uni Bremen, weist in der Zeitschrift Gesundheit darauf hin, dass Mittel gegen Epilepsie, Psychopharmaka und Schilddrüsenhormone, bei denen die Dosierung sehr genau eingestellt werden muss, in Rabattverträgen enthalten sind, dort aber nichts zu suchen haben: Zwischen verschiedenen Herstellern können Unterschiede von zehn bis 20 Prozent in der Freisetzung der Wirkmenge auftreten, die bei solchen Erkrankungen durchaus therapierelevant sind. Das Risiko für den Patienten ist vorprogrammiert.
Die Kassen wiegeln ab. Sie weisen darauf hin, dass man sich bei Problemen mit dem neuen Arzneimittel das gewohnte ja verschreiben lassen könne. So wandert der schwarze Peter zum Arzt. Doch nicht jeder Patient traut sich, dies von seinem Arzt zu fordern. Und nicht jeder Arzt ist begeistert, wenn er mit einem Kreuzchen an der richtigen Stelle auf dem Rezept den Apotheker ermächtigen soll, ein anderes Arzneimittel als das der Kasse genehme auszuhändigen. Ist er zu großzügig mit den Ausnahmen, riskiert er einen Regress.
Ein Skandal ist auch die mangelnde Transparenz der Rabattverträge. Keine Krankenkasse muss offenlegen, für welche Produkte sie von welchem Hersteller welche Rabatte bekommt. Wie hoch die beträchtlichen Kosten für Ausschreibungen, für die Prüfung der Angebote, für Verhandlungen, Verwaltung und gerichtliche Auseinandersetzungen mit Verliererfirmen sind auch das wird verschwiegen. Insofern ist auch keine Kontrolle möglich, ob die Gewinne aus den Rabattverträgen die Gefahren für die Patienten überhaupt rechtfertigen. Zweifel sind angebracht.
Ein weiterer Skandal sind die steigenden Zuzahlungen. Denn auch für Arzneimittel, deren Preise wesentlich höher sind als die der Konkurrenz, können Verträge geschlossen werden Hauptsache, der Rabatt ist ebenfalls hoch. Doch der ist geheim. Den kennen nur die Krankenkasse und der Hersteller.
Der Dumme in diesem Spiel ist der Patient. Er muss in diesem Fall eine Zuzahlung leisten, je nach Preis der Packung fünf bis zehn Euro. Obwohl das Arzneimittel für die Kasse gar nicht so teuer ist. Sie kriegt ja noch den Rabatt. Deshalb schlug jüngst der Deutsche Apothekerverband (DAV) Alarm: Musste der Patient vor einem Jahr nur bei 40 Prozent aller Rabattarzneimittel eine Zuzahlung leisten, muss er dies heute schon bei jeder zweiten Packung tun, Tendenz steigend. Auch fünf Euro tun weh, wenn man es nicht so dicke hat.
1,8 Milliarden Euro kommen alleine an Zuzahlungen auf diese Weise zusammen. Die mussten die Kranken im Jahre 2010 aufbringen. Die Apotheken müssen die Zuzahlungen für die Kassen eintreiben. So will es das Gesetz. Die zahllosen Diskussionen mit verärgerten Patienten sind Alltag in der Apotheke.
Eins ist sicher: Wüssten die Abgeordneten um alle diese Probleme und hätten sie den Einfluss, den sie so schmerzlich vermissen, dann wären die Rabattverträge längst Makulatur.
Doch die Abgeordneten stehen am Rande der Spielwiese. Sie dürfen zusehen, mitspielen dürfen sie nicht.
PHILIPP ALLMÄCHTIG Ein Kommentar der Redaktion Wenn Sie bei jeder Entscheidung ohnehin kritisiert werden, dann gibt das einem die Freiheit, das zu tun, was man für richtig hält. Gesundheitsminister Philipp Rösler hat diesen verräterischen Satz in Bayreuth gesagt. So berichtet es die Frankenpost.
Kritik nicht ernstnehmen? Das ist arrogant. Was, wenn das, was man für richtig hält, falsch ist? Wie so vieles in seinen Gesundheitsreformgesetzen? Die Apotheker wissen ein Lied davon zu singen.
Etwas mehr Demut bitte vor den Leistungen derjenigen, die Tag für Tag im Gesundheitswesen ihren Kopf hinhalten.