München – Das Gesundheitsministerium hat sich viel vor genommen in Sachen Bürokratieabbau. Gut so, denn die Liste an unsinnigen Verwaltungshürden im Gesundheitssystem ist lang. Deutschlands größte Betriebskrankenkasse – die SBK Siemens-Betriebskrankenkasse – stellt fünf Beispiele aus dem Kassenalltag vor, die optimierbar sind. Die Vorgänge kosten wertvolle Ressourcen und belasten das System unnötig. Genau wie Ärztinnen, Ärzte und Kliniken leiden auch Krankenkassen unter Bürokratiemonstern, die sie von ihrer wichtigen Aufgabe – der Versichertenbegleitung und -beratung – abhalten.
1. Prozesse ohne Nutzerbrille
Haben Versicherte ihre Karte verloren, kürzlich die Kasse gewechselt oder kommt es zu einem Fehler beim Einlesen der Karte, erhalten sie übergangsweise von der Krankenkasse eine zeitlich befristete Ersatzbescheinigung. Wer nicht die digitalen Möglichkeiten einer Kassen-App nutzt, hat mit dem Anfordern der Ersatzbescheinigung viel Arbeit: Die Versicherten müssen selbst Kontakt mit ihrer Kasse aufnehmen, um die Bescheinigung in Papierform an die Praxis bzw. Klinik faxen zu lassen. Dieser zusätzliche Aufwand für Versicherte ist unnötig, denn Praxen und Kassen haben bereits eine digitale Kommunikationsschnittstelle, in der sie die „Versicherungsfrage“ schnell und unbürokratisch lösen könnten. Das Problem: Aus regulatorischen Gründen darf aktuell nur der Versicherte selbst die Bescheinigung anfordern.
Unser Vorschlag:
Praxen und Kassen können über ihre digitale Schnittstelle KIM (Kommunikation im Medizinwesen) miteinander kommunizieren. Ärztinnen und Ärzte versenden darüber zum Beispiel Krankmeldungen oder Heil- und Kostenpläne. KIM gilt als „sichere Mail“ und durch sie konnten schon einige Prozesse im Gesundheitswesen digitalisiert werden. Auch die Versichertenfrage ließe sich mittels KIM einfach und unbürokratisch lösen: Der Versicherte willigt in der Praxis explizit zur Datenabfrage ein und die MFA klärt die „Versichertenfrage“ direkt mit der Krankenkasse. Ein Win-Win für alle: Die Versicherten werden entlastet, die Praxis spart sich aufwendige Papierprozesse.
Einsparpotential SBK: 2023 wurden 90.930 Ersatzbescheinigungen in Papierform versendet
Einsparpotential GKV (Hochrechnung)*: ca. 6 Mio. Ersatzbescheinigungen p.a.
2. Fehlende Digitalisierung: Familienversicherung
Eigentlich ist der Beitritt zur gesetzlichen Krankenversicherung komplett digital möglich. Mit einer Ausnahme: die Familienversicherung. Hier ist per Gesetz nach wie vor eine
Originalunterschrift der Versicherten gefordert. Das ist für Familien wenig nachvollziehbar. Eine digitale Lösung könnte Geld und Zeit sparen.
Unser Vorschlag:
Gleiches Recht für alle! Auch in der Familienversicherung kann auf ein einfaches, elektronisches Verfahren umgestellt werden. Damit entfallen die Originalunterschrift und ca. 7.000 Papier-Fragebögen, die jährlich allein bei der SBK bearbeitet werden.
Einsparpotential SBK: ca. 7.000 Papier-Fragebögen p.a. (á 4 DIN-A4-Seiten) = ca. 28.000 Blatt Papier p.a.
Einsparpotential GKV (Hochrechnung)*: ca. 460.000 Fragebögen und 1,9 Mio. Blatt Papier p.a
3. Fehlende Digitalisierung: Medizinischer Dienst
Der Medizinische Dienst (MD) ist der sozialmedizinische und pflegefachliche Beratungs- und Begutachtungsdienst der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung. Der MD übernimmt wichtige Aufgaben wie die Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit oder die Beratung der Krankenkassen bei Fragen zur Leistungsgewährung. Die Kranken- und Pflegekassen beauftragen den MD über ein digitales Verfahren. Werden zur Begutachtung weitere medizinische Unterlagen benötigt, fordert der MD diese häufig direkt bei den Ärztinnen und Ärzten an. Die Schnittstelle zwischen MD und Krankenkasse ist digitalisiert. Zwischen MD und Praxen jedoch findet noch eine analoge Kommunikation statt, d.h. die Ärztinnen und Ärzte müssen die Unterlagen ausdrucken oder kopieren und versenden sie per Post. Dieser Prozess verschwendet nicht nur wertvolle Ressourcen in den Praxen, sondern bedeutet auch für den MD ein komplexes Verfahren mit einem Mix aus digitalen und analogen Daten.
Unser Vorschlag:
Alle Vorgänge werden digitalisiert, zum Beispiel über eine Erweiterung der KIM-Schnittstelle zwischen Praxen und MD. Das spart nicht nur Zeit und wertvolle Ressourcen, sondern verringert auch den ökologischen Fußabdruck durch die Einsparung von Papier und Transport.
Einsparpotential SBK: In 2023 wurden ca. 34.000 MD-Begutachtungen veranlasst
Einsparpotential GKV (Hochrechnung)*: ca. 2,3 Mio. MD-Begutachtungen
4. Zusatzaufwand für freiwillig Versicherte
Freiwillig Versicherte sind in vielerlei Hinsicht von aktuellen Regelungen in der GKV benachteiligt. Oft haben sie einen Mehraufwand im Vergleich zu Pflichtversicherten. Zum Teil hat dies das Gesundheitsministerium erkannt und macht im zuletzt veröffentlichten „Eckpunktepapier zur Bürokratieentlastung“ folgenden Vorschlag: eine automatisierte Datenübermittlung der Einkommensdaten von den Finanzämtern an die Krankenkassen. Vorteil für die Versicherten: Es sind keine manuellen Nachweise mehr nötig. Wir haben noch einen weiteren Vorschlag, wie wir freiwillig Versicherte und Selbstständige entlasten können.
Unser Vorschlag:
Freiwillig versicherte Beschäftigte, die eine Rente beziehen, erhalten vom Rentenversicherungsträger einen Beitragszuschuss zur Krankenversicherung. Die Zahlung nimmt allerdings einen unnötigen Umweg: Der Rentenversicherungsträger überweist dem Versicherten den Zuschuss und dieser überweist den Zuschuss wiederum an die Krankenkasse. Dieser Ablauf ist frustrierend und ineffizient und ließe sich einfach lösen, indem die Rentenversicherung die Zahlung direkt an die Krankenkasse tätigt.
Einsparpotential SBK: ca. 1.000 betroffene Versicherte (2023)
Einsparpotential GKV (Hochrechnung)*: ca. 66.000 betroffene Versicherte
5. Echte Entlastung für pflegende Angehörige
Die tägliche Verantwortung für die Pflege eines Angehörigen ist extrem belastend und jede bürokratische Hürde macht den Pflegebedürftigen das Leben schwer. Besonders ärgerlich sind Verwaltungshürden vor allem dann, wenn es sich um Angebote handelt, die vom Gesetzgeber eigentlich zur Entlastung angedacht waren. Ein Beispiel sind die sogenannten Entlastungsleistungen in der Pflege: Für 125 € monatlich übernehmen geschulte Ehrenamtliche oder professionelle Betreuungskräfte für einige Stunden im Monat verschiedene Aufgaben im Haushalt. Anspruch haben alle Pflegebedürftigen der Pflegegrade 1 bis 5 in der ambulanten Pflege.
In der Praxis jedoch, profitieren die Betroffenen kaum von einer Entlastung. Der Grund ist das komplizierte, kleinteilige Abrechnungsverfahren. Die Versicherten zahlen zunächst alle Rechnungen selbst und reichen sie hinterher bei der Pflegekasse ein. Das bedeutet: Belege sammeln und sich jeden Monat um die Abrechnung kümmern. Dies sorgt auf beiden Seiten – Versicherte und Kassen – für unnötigen Aufwand. Allein in der SBK waren es 2023 ca. 200.000 Rechnungen dieser Art. Unterschiedliche Anerkennungsvorgaben und -formulare je Bundesland bedeuten auf Kassenseite zusätzliche Bürokratie und Ressourcenverschwendung.
Unsere Vorschläge:
- Wir brauchen dringend bundesweit einheitliche Anerkennungsvorgaben und Abrechnungsformulare. So können wir eine schnelle und digitale Einreichung ermöglichen und die wertvollen Ressourcen der Pflegeberatung sowie der Angehörigen schonen.
- Am sinnvollsten wäre es jedoch, den Betrag von 125 € monatlich pauschal auf den Pflegebetrag aufzuschlagen. Damit würde eine kleinteilige Abrechnung komplett wegfallen. Damit ermächtigen wir unsere mündigen Versicherten eigenverantwortlich mit den Entastungsleistungen umzugehen. Zudem profitieren davon auch Angehörige, die Tätigkeiten wie Fenster putzen oder Wäsche waschen bisher selbst erledigen – ohne Entschädigung. Privatpersonen benötigen nämlich in der Regel eine pflegerische Basisschulung um haushaltsnahe Dienstleistungen abrechnen zu können. Damit entlasten wir das System doppelt: Denn auf ein „Diplom für Haushaltsführung“ können wir getrost verzichten.
Einsparungspotential SBK: ca. 200.000 Rechnungen p.a.
Einsparpotential GKV (Hochrechnung)*: ca. 13 Mio. Rechnungen p.a.
„Wir freuen uns, dass das BMG derzeit den Turbo in Sachen Bürokratieabbau einlegt. Viele der Vorschläge im „Eckpunktepapier zum Bürokratieabbau im Gesundheitswesen“ oder dem „Maßnahmenpaket zur Stärkung der ambulanten ärztlichen Versorgung“ befürworten wir explizit. So zum Beispiel die Kindkrankmeldung ab dem vierten Tag oder die Abschaffung des zweistufigen Antragsverfahren in der Kurzzeittherapie (Psychotherapie). Ebenso begrüßen wir die Forderung nach einer verstärkten Zusammenarbeit der Ämter – beispielsweise durch eine automatische Datenmeldung von Finanzämtern an die Krankenkassen über die Einkommensdaten der freiwillig gesetzlich Versicherten. Das entlastet nicht nur uns Kassen, sondern vereinfacht das Verfahren für die vielen Selbstständigen und freiwillig gesetzlich Versicherten,“ kommentiert Franziska Beckebans, Leiterin des Bereichs Kundenmanagement und Versorgung der SBK Siemens-Betriebskrankenkasse.
Dialog mit allen Betroffenen wichtig
„Wichtig ist uns ein offener Dialog zwischen Politik, Kassen und den Leistungserbringenden. Nach meiner Erfahrung entstehen manche Regeln oft aus dem Bedürfnis heraus, sich noch einmal doppelt abzusichern – zum Beispiel aus Datenschutzgründen. Mehr Vertrauen in die Zusammenarbeit, in die Kompetenz des Anderen sowie ein gemeinsamer Blick auf den Versicherten – das würde helfen, das Bürokratiemonster einzudämmen und manche Regel ganz zu streichen,“ sagt Dr. Gertrud Demmler, Vorständin der SBK Siemens-Betriebskrankenkasse.
„Und wenn wir schon dabei sind, Prozesse zu optimieren, dann wäre mir ein gemeinsamer Fokus auf Datenqualität sehr wichtig. Standardisierung ist auch die Voraussetzung für Digitalisierung. Wenn wir also vorne genau darauf achten, dass Diagnosen und andere Angaben vollständig, korrekt und einheitlich sind, sparen wir uns hinterher zahlreiche nachgelagerte Prüfmechanismen und können schneller digitalisieren,“ so Demmler weiter.
Wie gelungener Dialog und Zusammenarbeit aussehen können, zeigt das Beispiel elektronisches Beantragungsverfahren Zahn (EBZ). Bei dem Verfahren werden Behandlungspläne für die Leistungsbereiche Zahnersatz, Kieferbruch/ Kiefergelenkserkrankungen, Kieferorthopädie und Parodontalerkrankungen digital an die Krankenkassen übersendet und genehmigt. Dank des EBZ konnte die Bearbeitungszeit für die Genehmigungsanträge deutlich reduziert werden – schließlich entfällt der Postweg. Bei den meisten Anträgen haben die Zahnarztpraxen die Antwort der Krankenkassen nach ein bis zwei Tagen vorliegen. So kann frühzeitiger mit der Behandlung begonnen werden und die Versicherten haben keinen „Papierkram“ mit der Krankenkasse zu erledigen. Für die Zahnarztpraxis bietet das EBZ weitere organisatorische Vorteile wie die automatische Datenverarbeitung im Praxisverwaltungssystem.
*Hochrechnung basiert auf der Annahme eines SBK-Marktanteils von 1,5%. Tatsächliche Zahlen können aufgrund von Versichertenstruktur o.ä. abweichen.