Kiel – Eine Verschlechterung der Versorgung mit Haus-, Fach- und Kinderärzten sowie Krankenhäusern nehmen vor allem Menschen kleinerer und mittlerer Städte und Gemeinden in Schleswig-Holstein wahr. Das zeigt eine von der AOK NORDWEST heute in Kiel veröffentlichte repräsentative forsa-Umfrage. Anlässlich des AOK-Tags der Selbstverwaltung diskutierten vor diesem Hintergrund die ehrenamtlich tätigen Arbeitgeber- und Versichertenvertreter des AOK-Verwaltungsrats und Regionalbeiräte mit namhaften Experten aus Politik und dem Gesundheitswesen über mögliche Lösungsansätze im nördlichsten Bundesland. „Die Gesundheitsversorgung ist ein zentrales gesellschaftspolitisches Thema. Dabei müssen die Bedürfnisse der Bevölkerung auf dem Land stärker in den Fokus rücken und innovative Versorgungsansätze ausgeweitet werden“, erklärte Georg Keppeler, alternierender AOK-Verwaltungsratsvorsitzender und Versichertenvertreter.
Hierbei kann die AOK NORDWEST direkt an die Ergebnisse der forsa-Studie anknüpfen. So bestätigt die Umfrage, dass die Bevölkerung im nördlichsten Bundesland offen ist gegenüber innovativen Versorgungsformen. Angebote wie die mit Ärzten abgestimmte Betreuung durch speziell qualifizierte medizinische Fachkräfte erreichen Zustimmungswerte von 84 Prozent. Auch die Nutzung von Videosprechstunden kann sich schon jeder Zweite (55 Prozent) vorstellen. Die Umfrage zeigt darüber hinaus, dass entsprechende Lösungen von der Bevölkerung in Schleswig-Holstein nicht nur akzeptiert werden. Die Menschen erwarten diese sogar ganz konkret von ihrer Krankenkasse. „Das zeigt, dass Versorgungsangebote nicht gleichmäßig über die Landschaft zu verteilen sind, sondern Distanzen überwunden und Erreichbarkeit hergestellt werden müssen. In diesem Zusammenhang brauchen wir eine noch bessere Verzahnung von ambulanter und stationärer Versorgung“, so AOK-Vorstandsvorsitzender Tom Ackermann.
Darüber hinaus macht die forsa-Umfrage deutlich, dass die Gesundheitsversorgung für die Schleswig-Holsteiner unter allen Infrastruktureinrichtungen am wichtigsten ist. Danach liegt die Verfügbarkeit von Hausärzten in der Bedeutung mit 94 Prozent ganz vorn, noch vor Einkaufsmöglichkeiten (92 Prozent), dem Internet (89 Prozent) oder Schulen und anderen Bildungseinrichtungen (84 Prozent). Dies gilt sowohl für Städter als auch für die Landbevölkerung. Dabei ist der Bevölkerung bei der Arzt- oder Krankenhauswahl eine gute Behandlungsqualität allerdings deutlich wichtiger als eine schnelle Erreichbarkeit.
Für Schleswig-Holsteins Gesundheitsminister Dr. Heiner Garg ist die Sicherung der medizinischen Versorgung im ländlichen Raum eine der zentralen versorgungspolitischen Herausforderungen, die ohne dogmatische Scheuklappen angepackt werden müsse. „Kooperationen, Telematik und Künstliche Intelligenz, aber vor allem auch sektorenverbindende Versorgungsformen und grundlegend überarbeitete Vergütungssysteme sind beispielhafte Bausteine zur Versorgungssicherung“, so der Minister.
Aus Sicht von Thomas Rampoldt, Geschäftsführer der Ärztegenossenschaft Nord, wird die Patientenversorgung der Zukunft in multiprofessionellen, regional aufgestellten Teams, ergänzt um das Ehrenamt (virtuelle Großfamilie) erfolgen. „Die Sektorengrenzen werden verschmelzen und integrative Versorgungszentren entstehen, in die Kommunen etwa über Leistungen des Gesundheitsdienstes eingebunden sind. Patienten werden nicht mehr alleine entscheiden, ob Hausarzt, Facharzt oder Krankenhaus; sie werden durch Koordinatoren einer bedarfsgerechten Versorgung zugeführt.“
Nach Einschätzung von Bernhard Ziegler, Krankenhausdirektor im Klinikum Itzehoe, wird sich die fachärztliche Versorgung in ländlichen Regionen zunehmend an den Krankenhäusern bündeln. „Aufgrund der Knappheit der personellen Ressourcen wird dies zwangsläufig einsetzen – und das ist auch sinnvoll. Es muss gleichzeitig jedoch alles darangesetzt werden, die allgemeinärztliche und hausärztliche Versorgung in der Fläche zu erhalten. Denn es ist zu erwarten, dass in ländlichen Gegenden mehr ältere Menschen leben werden als in Ballungszentren“, so Ziegler.
Die Nutzung etwa der Telemedizin wird die Ärzteschaft vor große Herausforderungen stellen, prognostiziert Dr. Monika Schliffke, Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein. „Da die Zahl der Ärzte trotz aller Bemühungen um den Nachwuchs endlich bleiben wird und gerade die Nachbesetzung im ländlichen Raum eine Herausforderung darstellt, müssen die Einsatzmöglichkeiten und positiven Nutzenbewertungen sich mit dem Faktor Arztzeit in Übereinstimmung bringen lassen. Telemedizin wird noch lange ein Add-on sein. Um Interesse und Akzeptanz auf Arztseite dazu herzustellen, sind neben dem Faktor Honorar auch Arztzeitentlastung, sichtbarer Patientennutzen und schnellerer Zugang zu Wissen entscheidend”, so Schliffke.
Für Dr. Henrik Herrmann, Präsident der Ärztekammer Schleswig-Holstein, sind neue teamorientierte Versorgungsformen erforderlich, um eine gesundheitliche Versorgung auf dem Land auch in Zukunft gewährleisten zu können. Eine davon ist die Praxis ohne Arzt. Hier werden Medizinische Fachangestellte, Nichtärztliche Praxisassistentinnen, Pflegefachkräfte und Physician Assistants künftig mehr Verantwortung übernehmen. Dies wird dazu führen, dass ein Teil der bis jetzt als ärztlich wahrgenommen Tätigkeiten künftig von anderen hochqualifizierten Gesundheitsfachberufen unter ärztlicher Verantwortung und Teamleitung durchgeführt wird.“
AOK setzt auf passgenaue Versorgung
Den erforderlichen Mut und Innovationskraft beweist die AOK NORDWEST seit vielen Jahren. In Schleswig-Holstein hat die Gesundheitskasse in Kooperation mit ihren Partnern neue Versorgungsformen initiiert und dabei in vielen Fällen nachweislich für eine bessere Versorgung gesorgt – insbesondere auch in ländlichen Regionen. Dazu gehören zum Beispiel die Virtuelle Diabetesambulanz für Kinder und Jugendliche, die elektronische Arztvisite in Pflegeheimen (elVi) oder die besondere Versorgung AOK-Versicherter mit Wundheilungsstörungen oder chronischen Wunden. Ein weiteres Modelprojekt ist ComanD, das in den nächsten Wochen und Monaten flächendeckend in ganz Schleswig-Holstein eingeführt werden soll. In diesem interdisziplinären Programm lernen an Diabetes Typ 2 erkrankte AOK-Versicherte ihre Krankheit besser zu managen und dauerhaft auf Antidiabetika zu verzichten. „Wir wollen, dass auch künftig auf dem Land eine qualitativ hochwertige Versorgung für die Menschen gut erreichbar bleibt. Dafür werden wir uns einsetzen“, sagt AOK-Chef Ackermann.
All diese Projekte haben aus Sicht von Johannes Heß, alternierender AOK-Verwaltungsratsvorsitzender und Arbeitgebervertreter auch das Potenzial, die in der ländlichen Gesundheitsversorgung entstehenden Lücken zu schließen. „Gute und passgenaue Versorgungsverträge entstehen nur dort, wo Ortskenntnis, hoher Marktanteil und regionales Engagement vorhanden sind“, so Heß. Deshalb müssten auch die Gestaltungsspielräume der Beteiligten vor Ort weiter gestärkt werden. Dafür macht sich der AOK-Verwaltungsrat stark. „Wir sind nah an den Menschen, kennen ihre Bedürfnisse und setzen uns für eine gute medizinische Versorgung in der Stadt, auf dem Land und auch im Internet ein“, so Heß.
Die derzeit bestehenden Herausforderungen in der Gesundheitsversorgung wie die zukunftssichere Finanzierung der Pflegeversicherung sind nach Auffassung von Heß gesellschaftliche Aufgaben der öffentlichen Hand und dürfen deshalb nicht auf die Beitragszahler, also Rentner, Arbeitnehmer und Arbeitgeber abgewälzt werden. Dies würde nur die Staatskasse entlasten und gleichzeitig die Beiträge in schwindelnde Höhen treiben. „Das verteuert den Faktor Arbeit und kann sich negativ auf die Arbeitsplätze auswirken“, so Heß.
AOK NORDWEST im Profil:
Die AOK NORDWEST mit Sitz in Dortmund zählt zu den zehn größten gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland. Die insgesamt rund 7.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beraten rund 2,9 Millionen Versicherte (davon 2,2 Millionen in Westfalen-Lippe und fast 700.000 in Schleswig-Holstein). Das Haushaltsvolumen beläuft sich auf 10,2 Milliarden Euro. Über 95 Prozent der geplanten Ausgaben werden direkt in die Gesundheit der Versicherten investiert.