Frechen – Erst seit wenigen Monaten gibt es eine Nationalmannschaft für Fußballer mit Cerebralparese in Deutschland. Trainer ist Ex-Profi Thomas Pfannkuch, der in den 1990er Jahren unter anderem für Borussia Mönchengladbach, Olympique Lyon und Eintracht Braunschweig spielte. Der erste Höhepunkt steht bereits kurz nach dem Startschuss vor Tür: Eine Woche nach dem Finale der Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien dürfen sich die Fußballer des Deutschen Behindertensportverbands bei der Europameisterschaft in Portugal mit den Besten des Kontinents messen. Über die Entstehung der Mannschaft, die Ziele für die EM und die große Herausforderung sprach Kevin Müller mit Thomas Pfannkuch.
Ein ehemaliger Bundesliga-Fußballer trainiert Kicker mit Behinderung. Wie ist es dazu gekommen?
Mit Freunden aus der Sportszene, darunter auch einige ehemalige Profisportler, haben wir vor knapp zwei Jahren die Sportfreunde Braunschweig gegründet. Ein Verein, der das Ziel hat, auch behinderten Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit zu bieten, Sport zu treiben. Gestartet sind wir damals mit sechs Kids, mittlerweile sind wir über 20, egal ob mit oder ohne Behinderung oder welches Handicap sie haben. Aus diesem Projekt sind viele Kontakte und Beziehungen entstanden.
So auch zum Deutschen Behindertensportverband (DBS)?
Es hat einen Workshop, organisiert vom DBS, der DBS-Akademie, der DFB-Stiftung Sepp Herberger und der Hannelore Kohl Stiftung gegeben, mit dem Ziel, auch für Menschen mit einer zerebralen Bewegungsstörung eine Fußballmannschaft ins Leben zu rufen. Aus diesem ersten Informationslehrgang ist das Team dann langsam entstanden. Es wurde ein Trainer gesucht, und ich habe mich ganz offiziell dafür beworben.
Seit Anfang des Jahres coachen Sie die Mannschaft gemeinsam mit der ehemaligen Bundesliga-Fußballerin Tina Klose. Wie sind die ersten Eindrücke?
Absolut positiv. Die Jungs ziehen total gut mit. Dafür, dass es uns erst seit ein paar Monaten gibt, läuft es super und es macht richtig viel Freude. Es ist toll, dass der DBS dieses Thema angepackt hat. Wie gut wir allerdings sind, gerade im Vergleich zu anderen Nationen, das weiß noch keiner so recht.
Das wird sich bald ändern. Ab dem 20. Juli steht mit der Europameisterschaft in Portugal das erste große Highlight an.
So richtig glauben kann das von uns noch keiner. Doch natürlich sind die Jungs total stolz und glücklich, dass wir in den Flieger nach Portugal steigen dürfen. Alle sind schon aufgekratzt und fiebern diesem Riesenerlebnis entgegen. Wir haben sogar originale Trikots mit dem Adler auf der Brust von der DFB-Stiftung Sepp Herberger bekommen. Für die Jungs wird es ein ganz besonderes Gefühl sein, Deutschland dort vertreten dürfen.
Mit welchen Zielen fliegen Sie denn zur EM?
Wir wollen so viel lernen wie möglich, wollen die bestmöglichen Erfahrungen sammeln und alle Eindrücke aufsaugen. Die Mannschaft ist in den vergangenen Monaten immer mehr zusammen gewachsen und wird ihr Bestes geben. Was dann dabei herauskommt, können wir nicht einschätzen. Jedenfalls haben wir neben Schottland und Irland mit dem russischen Team direkt auch den Weltranglistenersten in unserer Gruppe.
In zwei Jahren finden in Rio die Paralympics statt. Haben Sie die Teilnahme auch als Ziel im Hinterkopf?
Jeder Sportler will doch zu diesen großen Wettkämpfen und Turnieren – Weltmeisterschaften, Olympia, Paralympics. Natürlich ist es unser großer Antrieb, in zwei Jahren dabei zu sein. Nach der EM werden wir etwas schlauer sein. Danach müssen wir sehen, inwieweit wir dieses Ziel verfolgen können. Klar ist: Wir werden alles dafür geben.
Wie setzt sich die Nationalmannschaft zusammen?
Wir reisen mit fünf Betreuern und einem 14er-Kader nach Portugal. Zehn von den Spielern waren beim Auftakt-Workshop dabei, die anderen sind über Beziehungen oder das Internet an uns herangetreten. Noch stellt sich die Mannschaft gewissermaßen von alleine auf, da wir sehr wenig Spielermaterial zur Verfügung haben. So ist im EM-Kader nur ein Torwart – und wir müssen hoffen, dass er sich nicht verletzt.
Sie haben einige Mannschaften ohne Behinderung trainiert, unter anderem in der A-Junioren-Bundesliga. Worin liegen die Unterschiede, nun mit Kickern mit Handicap zu arbeiten?
Wir spielen mit sieben statt elf Spielern, unser Feld ist entsprechend kleiner und die Regeln sind etwas modifiziert. Ansonsten ist alles wie immer. Die Jungs sind mit dem gleichen Einsatz und der gleichen Leidenschaft bei der Sache wie Fußballer ohne Behinderung.
Wie macht sich die Behinderung denn bemerkbar?
In den Bewegungsabläufen gibt es natürlich schon Unterschiede. Mancher kann sich nicht so gut drehen, andere können aufgrund einer Lähmung nicht mit beiden Beinen gleich gut schießen. Aber dass der eine Fuß stärker ist als der andere, ist ja auch ohne Behinderung weit verbreitet. Insgesamt ist bei uns die Koordination sehr wichtig. Diesen Bereich müssen wir daher intensiver trainieren.
Bislang hat der Fußball für Menschen mit Cerebralparese in Deutschland keine Rolle gespielt. Ist es eine Herkulesaufgabe?
Das kann man so sagen, da wir nicht wissen, was uns erwartet und wie es sich entwickelt. Es gibt also noch sehr viel zu tun. Schließlich haben wir bei Null angefangen. Allerdings ist es total reizvoll, etwas aufzubauen und die eigenen Vorstellungen und Ideen umzusetzen. Und wenn man sieht, mit wie viel Freude die Jungs bei der Sache sind und wie sie sich gegenseitig unterstützen, macht das einfach nur Spaß.
Wenn Sie ein oder auch zwei Jahre in die Zukunft blicken: Was wünschen Sie sich?
Dass es noch viel mehr Fußballer gibt, die mit uns kicken möchten, der Kader somit größer wird und dass es viel mehr Menschen gibt, die wissen, dass es uns gibt. Und wenn wir uns als Mannschaft etablieren und weiter verbessern, liegt der große Traum natürlich auf der Hand: die Teilnahme an den Paralympics in Rio 2016.
Zur Person: Thomas Pfannkuch (44) wurde 1990 Fußball-Profi bei Borussia Mönchengladbach und wechselte nach gut einem Jahr nach Frankreich zu Olympique Lyon. Anschließend kickte er von 1992 bis 1999 bei Eintracht Braunschweig. Es folgten die Stationen Reutlingen (Regionalliga) und Göttingen (Oberliga), ehe Pfannkuch Spielertrainer bei Germania Halberstadt (Oberliga) wurde. Danach zog es ihn zurück nach Braunschweig, wo er zunächst als Teammanager und anschließend als Gesamt-Jugendkoordinator arbeitete und die A-Junioren in der Bundesligatrainierte. Seit Juli 2010 ist der 44-Jährige im Bereich Aus- und Weiterbildung selbstständig und leitet mehrere Sportprojekte. So ist er 1. Vorsitzender der neu gegründeten Sportfreunde Braunschweig, die benachteiligten Kindern und Jugendlichen Möglichkeiten im Bereich des Sports anbieten möchten. Seit Anfang 2014 ist Thomas Pfannkuch Trainer der Nationalmannschaft des Deutschen Behindertensportverbands für den Bereich CP-Fußball (Cerebralparese).
CP-Fußball in Deutschland: Cerebralparese bezeichnet eine zerebrale Bewegungsstörung bzw. eine neurologische Schädigung mit Auswirkung auf die Bewegungsmotorik. Entsprechend sind Bewegungsabläufe und -muster eingeschränkt. In Deutschland hat der Fußball für Menschen mit Cerebralparese bis vor wenigen Monaten keine Rolle gespielt. Inzwischen wurde unter Cheftrainer Thomas Pfannkuch und Assistentin Tina Klose eine Nationalmannschaft aufgebaut. Diese vertritt Deutschland bei der Europameisterschaft in Portugal vom 20. Juli bis 3. August.