Berlin – Der Deutsche Ethikrat hat am gestrigen Mittwoch im Rahmen seines “Forums Bioethik” darüber diskutiert, inwieweit der Staat verlangen kann, dass sich jeder zur Organspende erklärt.
Peter Neuhaus, Direktor der Klinik für Allgemein-, Visceral- und Transplantationschirurgie der Charité in Berlin, berichtete eingangs über die bisherige Entwicklung der Transplantationsmedizin und ihre Perspektiven. So habe sich in den letzten Jahren gezeigt, dass Organempfänger nicht nur eine größere Überlebenschance hätten, sondern auch “eine ungleich höhere Lebensqualität, Leistungsfähigkeit und Lebensfreude” entwickelten. Ein weiterer Trend sei, dass das Alter der Organspender deutlich ansteige. Im Falle der Lebertransplantation habe sich das mittlere Organspendealter in den vergangenen Jahren sogar verdoppelt, weil die Leber ein sich regenerierendes Organ ist und somit auch ältere Menschen als Spender infrage kommen. Verglichen mit anderen europäischen Ländern bewege sich Deutschland bezüglich des Aufkommens der postmortalen Organspende mit knapp 15 pro Million Einwohner jedoch im unteren Drittel. Um dieses Problem zu bewältigen und die wissenschaftliche Entwicklung der Transplantationsmedizin voranzubringen, sprach sich Neuhaus dafür aus, die Transplantationen stärker in größeren Zentren zusammenzuführen, und forderte die Politik auf, sich an diesem Vorhaben zu beteiligen.
Thomas Breidenbach, Geschäftsführender Arzt der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO), Region Mitte, ergänzte diesen Sachstandsbericht aus der praktischen Perspektive der Organspende. Als Ursachen für die niedrige Zustimmungsrate der Angehörigen benannte Breidenbach die Befürchtungen, dass Ärzte nicht mehr alles in ihrer Macht Stehende tun könnten, um das Leben des Angehörigen zu retten, aber auch die Angst vor Organhandel und die unterschiedliche rationale und emotionale Wahrnehmung des Hirntods. Um langfristige psychische Belastungen zu vermeiden, sei daher ein kompetenter und behutsamer Umgang mit den Angehörigen wichtig, denn “ein zu schnelles Ja kann genauso falsch sein wie ein zu schnelles Nein”.
Weyma Lübbe, Mitglied des Deutschen Ethikrates, referierte zu ethischen Implikationen der Äußerungspflicht zur Organspende. Ihrer persönlichen Einschätzung zufolge komme die bisherige öffentliche Diskussion, zu der sie auch die Stellungnahme des früheren Nationalen Ethikrates “Die Zahl der Organspenden erhöhen – Zu einem drängenden Problem der Transplantationsmedizin in Deutschland” zählte, “einer massiven öffentlichen moralischen Nötigung gleich, sich zur postmortalen Organspende bereit zu erklären”. Dies sei mit der gleichzeitig vertretenen These kaum zu vereinbaren, dass auch die Entscheidung, nicht zu spenden, unbedingt zu respektieren sei. Sie hob hervor, dass man eine rechtliche Äußerungspflicht zur Organspende nicht etablieren könne, ohne zu fragen, was im Falle der Nichtäußerung passieren solle. Sie kritisierte die These, derzufolge man aus der Nichtäußerung – auch nach staatlich begleiteter Beschäftigung mit der Thematik – auf eine Zustimmung schließen könne. Unter Bezugnahme auf die “Goldene Regel”, die besagt, dass man zu Leistungen, die man von anderen erwartet oder erhofft, auch selbst bereit sein sollte, führte sie aus: “Die zu wahrende Reziprozität ist die Wechselseitigkeit des Respekts für die persönliche Entscheidung, nicht die Wechselseitigkeit der Spendebereitschaft.”
In der folgenden, von Ratsmitglied Eckhard Nagel moderierten Podiumsdiskussion wurde vor allem die Frage erörtert, inwieweit man vom Einzelnen eine Äußerung zur Organspende erwarten kann.
Als Angehörige eines Organspenders plädierte Marita Donauer aus eigener Erfahrung dafür, sich zu erklären. Ihre Überzeugung brachte sie auf die Formel: “Ich kann nicht nicht antworten.” Somit bestehe für einen Angehörigen die Pflicht zur Äußerung, auch wenn es für diesen schwierig sei, den mutmaßlichen Willen des Verstorbenen exakt zu bestimmen.
Annette Widmann-Mauz (MdB), Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesminister für Gesundheit, zufolge ist eine Spende ein altruistisches Geschenk, das man nicht erwarten könne. Es dürfe “keine Pflicht zur Spende und keine Pflicht zur Äußerung geben”. Vielmehr müssten andere Instrumente mobilisiert werden, die es den Menschen erleichtern, eine Entscheidung zu treffen.
Hans Lilie, Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsvergleichung und Medizinrecht der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, sieht auf jeden Fall tieferen Erörterungsbedarf, weil sich die Äußerungspflicht verfassungsrechtlich nicht herleiten lasse. Lilie zeigte sich davon überzeugt, dass es gleichgültig sei, für welches Modell – Zustimmungslösung oder Widerspruchslösung – man sich entscheide, solange die organisatorischen Mängel im Bereich der Transplantationsmedizin nicht behoben würden.
Jutta Riemer, Vorsitzende des Vereins Lebertransplantierte Deutschland e.V. schätzte ein, dass es für die Betroffenen in erster Linie wichtig sei zu wissen, dass die Organspende auf freiwilliger Basis zustande gekommen sei. Mit Blick auf die übereinstimmend befürwortete Aufklärungspflicht sei ein flächendeckendes, abgestimmtes Konzept erforderlich.
In der anschließend für das Publikum geöffneten Diskussion wurde ein geregeltes formales Äußerungsverfahren auf der Basis der Freiwilligkeit vorgeschlagen, von verschiedenen Seiten die Widerspruchsregelung oder gar die Solidarpflicht zur Organspende gefordert. Außerdem bedürfe es einer breiten öffentlichen Diskussion, in die alle, auch die kontroversen Argumente einfließen.
Während seiner Plenarsitzung am heutigen Donnerstag hat der Ethikrat beschlossen, eine Arbeitsgruppe einzurichten, die Empfehlungen bezüglich einer möglichen Äußerungspflicht erarbeiten soll.
Weitere Informationen zur Veranstaltung sowie Audiomitschnitt, Fotos und in Kürze auch die Simultanmitschrift sind unter http://www.ethikrat.org abrufbar.