Tübingen – Bei der akuten myeloischen Leukämie (AML) gilt es als Therapiestandard, eine vollständige Remission der Patient:innen anzustreben, bevor eine Stammzelltransplantation eingeleitet werden kann. Vollständige Remission bedeutet, dass die Krankheit mit den zur Verfügung stehenden diagnostischen Maßnahmen nicht mehr nachweisbar ist. Die Ergebnisse einer klinischen Studie, die von der DKMS ermöglicht und organisiert wurde, stellen diesen Imperativ jetzt in Frage. Sie legen nahe, dass erwachsene Patient:innen mit wiederkehrender oder therapieresistenter AML so schnell wie möglich eine Stammzelltransplantation erhalten sollten.
Entgegen früheren Annahmen erhöht das Erreichen einer kompletten Remission vor der Transplantation nicht die Überlebenschancen, sondern verlängert sogar unnötigerweise die Chemotherapie, die damit verbundenen Nebenwirkungen und den Krankenhausaufenthalt. Zu diesem wichtigen Ergebnis kam die von Forschenden des Universitätsklinikums Carl Gustav Carus Dresden und des Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen Dresden (NCT/UCC) geleitete Studie. Prof. Dr. Johannes Schetelig, Leiter des Bereichs Stammzelltransplantation am Universitätsklinikum Dresden und Leiter der DKMS Clinical Trials Unit, präsentierte die Ergebnisse am 11. Dezember auf dem weltgrößten Hämatologiekongress – der Jahrestagung der American Society of Hematology (ASH) – in New Orleans, USA. Unterstützt wurde die Studie von der Studienallianz Leukämie (SAL) und der Kooperativen Deutschen Transplantationsstudiengruppe.
Erwachsenen AML-Patient:innen mit einer schlechten Prognose nach einer ersten Induktionstherapie oder solchen, die bereits einen Rückfall erlitten haben, wird in der Regel zu einer allogenen Stammzelltransplantation geraten – als Chance auf langfristige Heilung. Ein wichtiger Schritt vor dieser lebensrettenden Therapie war bisher der, die Patient:innen durch eine Hochdosis-Chemotherapie wieder in eine vollständige Remission zu bringen.
Die klinische Studie verglich die Standardbehandlung mit einem alternativen Ansatz für Hochrisiko-AML-Patient:innen
Das Forscherteam sammelte Daten von 276 Patient:innen im Durchschnittsalter von 61 Jahren, die in zwei Gruppen aufgeteilt wurden. Gemäß der Standardpraxis wurde die erste Gruppe vor der Stammzellentransplantation mit einer längeren Chemotherapie behandelt, um eine vollständige Remission zu erreichen. Gruppe zwei erhielt eine Transplantation nach einer kurzen 12-tägigen Konditionierungsphase, ohne die Absicht vor der Transplantation eine vollständige Remission zu erreichen. Voraussetzung für die Stammzelltransplantation war natürlich, dass ein passender allogener Stammzellspender zur Verfügung stand.
Die Ergebnisse der Studie sind überraschend eindeutig
Die gängige Praxis, vor der Transplantation eine komplette Remission zu erreichen, zeigte keinen Vorteil in Bezug auf den Gesamterfolg oder das Gesamtüberleben. Darüber hinaus erzielten die Patient:innen, die der alternativen Studiengruppe zugeteilt wurden, nicht nur das gleiche Ergebnis: Sie profitierten auch von weniger Nebenwirkungen, da sie sich keiner langwierigen Hochdosis-Chemotherapie unterziehen mussten und im Durchschnitt nur halb so lange im Krankenhaus bleiben mussten. „Die Ergebnisse unserer klinischen Studie waren auch für uns überraschend. Sie legen nahe, dass die Transplantation, wenn ein HLA-kompatibler Stammzellspender zur Verfügung steht, so schnell wie möglich erfolgen sollte, auch wenn noch Leukämiezellen im Körper der Patient:innen nachweisbar sind“, sagt Prof. Schetelig. „Darüber hinaus unterstreichen diese Ergebnisse die Notwendigkeit eines frühzeitigen Beginns der Spendersuche, möglichst schon zum Zeitpunkt der Diagnose und spätestens dann, wenn die genetischen Befunde ein ungünstiges AML-Risikoprofil zeigen.“
Möglicher Benefit: Mehr Patient:innen könnten weltweit transplantiert werden
Selbst mit intensiver Chemotherapie kann die zuvor angestrebte komplette Remission nur bei etwa 50 Prozent der Patient:innen erreicht werden. Bleibt die entsprechende Behandlung erfolglos, erhalten die meisten von ihnen bisher, je nach Gesundheitszustand, eine zweite intensive Chemotherapie mit entsprechend belastenden Nebenwirkungen. Eine sofortige Transplantation ohne vorherigen Versuch einer vollständigen Remission könnte nicht nur die Nebenwirkungen reduzieren und den Krankenhausaufenthalt verkürzen, sondern auch mehr Patient:innen den Zugang zu dieser potenziell lebensrettenden Therapie ermöglichen. „Dies gilt insbesondere für Länder mit einer weniger umfassenden Gesundheitsversorgung: Dort wird eine Stammzellentransplantation nach einem fehlgeschlagenen Versuch, die vollständige Remission zu erreichen, auch aus Kostengründen häufig nicht durchgeführt. Der Wegfall dieses teuren Zwischenschritts könnte daher weltweit mehr AML-Patient:innen die Möglichkeit einer Stammzelltransplantation eröffnen, die in vielen Fällen die einzige Chance auf Heilung ist“, erklärt Prof. Schetelig.
DKMS ermöglicht klinische Forschung
„Normalerweise verfolgen Sponsoren von klinischer Forschung wirtschaftliche Interessen. Es ist unüblich, eine klinische Studie durchzuführen, die eine medizinische Standardbehandlung in Frage stellt – meist ist es umgekehrt. Deshalb ist es notwendig, dass gemeinnützige Organisationen wie die DKMS auch klinische Forschung betreiben. Auf diese Weise können wir sicherstellen, dass die Patient:innen die bestmögliche Behandlung erhalten und wir die Patientenversorgung tatsächlich voranbringen“, sagt Dr. Alexander Schmidt, Global Chief Medical Officer der DKMS.