Stuttgart, 29.06.2010 – Die AOK hat Arzneimittelrabattverträge für elf weitere Wirkstoffe abgeschlossen. Die betreffenden Unternehmen wurden am Dienstagmorgen (29. Juni) über die regionalen Zuschläge informiert. Die neuen Verträge treten zum 1. Oktober 2010 in Kraft und laufen über zwei Jahre. Umsatzstärkster neuer Vertragswirkstoff ist der Blutgerinnungshemmer Clopidogrel. Dank der Rabattverträge spart allein die AOK-Gemeinschaft im laufenden Jahr 520 Millionen Euro ein. Nimmt man die ersten Verträge seit 2007 hinzu, summiert sich die Entlastung bis Jahresende auf rund eine Milliarde Euro.
Das bisher erfolgreichste wettbewerbliche Instrument zur Steuerung unserer Arzneimittelausgaben darf uns die Politik nicht wieder nehmen, sagte AOK-Verhandlungsführer Dr. Christopher Hermann in Stuttgart. Der stellvertretende Vorstandsvorsitzende der AOK Baden-Württemberg warnte vor den fatalen Folgen einiger bisher weitgehend unbeachtet gebliebener Bestandteile des am Dienstagmorgen vom Bundeskabinett verabschiedeten Gesetzentwurfs zur Neuregelung des Arzneimittelmarktes:
Die darin vorgesehene Übertragung der Zuständigkeit von den Sozial- auf die Zivilgerichte sowie die Aufhebung der juristischen Bindungswirkung bisheriger Gerichtsentscheidungen werden eine Flut neuer Klagen auslösen. Die Pharmaunternehmen stehen bereits in den Startlöchern, um Neuausschreibungen der 2011 auslaufenden Rabattverträge anzufechten. Angesichts der klaren EU-rechtlichen Vorgaben, wonach Krankenkassen dem Vergaberecht, aber nicht dem Kartellrecht unterliegen, sei auch die geplante entsprechende Anwendung des Kartellrechts im Krankenversicherungsrecht völlig verfehlt. Die Folgen für die auf Kooperation angelegte Krankenversicherung seien unübersehbar. Den Krankenkassen drohe dadurch ab 2011 eine Jahre andauernde neue juristische Blockade von Rabattverträgen, bis letztlich der Europäische Gerichtshof oder das Bundesverfassungsgericht geurteilt haben.
Hermann: Was die Bundesregierung bei den patentgeschützten Arzneimitteln mit diesem Gesetz mittelfristig sparen kann, ist unter dem Strich bedroht von wieder stark steigenden Ausgaben für Generika-Arzneimittel, weil jahrelange, teure Prozesse neue effektive Rabattverträge verhindern und bei den Kassen zu hohen Mehrausgaben führen.
Gutachten: Neuregelung verstößt gegen EU-Wettbewerbsrecht
Die Bundesregierung muss sich genau überlegen, ob sie den Versicherten und den Beitragszahlern angesichts des für 2011 drohenden Defizits von elf Milliarden Euro in der gesetzlichen Krankenversicherung Zusatzausgaben bei den Generika-Arzneimitteln zumuten will, sagte Hermann. Nach Ansicht von namhaften Kartellrechtsexperten verstößt der von der Koalition geplante Einbau des Kartellrechts – das für private Wirtschaftsunternehmen gemacht ist – in das Sozialgesetzbuch V gegen das europäische Wettbewerbsrecht.
Das geht aus einem jetzt vorgelegten Gutachten im Auftrag des AOK-Bundesverbandes hervor. Hermann: Offenbar möchte die Bundesregierung insbesondere die Arzneimittelversorgung der gesetzlich Krankenversicherten kartellrechtlichen Regelungen unterwerfen, wie sie für gewinnorientierte Kaffeeröster und Zementhersteller gelten. Das führt wieder zurück zur Verwendung von Beitragsmitteln für überhöhte Arzneimittelpreise und passt nicht zum notwendigen Sparprogramm. Die Schwächung der Rabattverträge ist ein Milliardengeschenk für die Pharmaindustrie.
Besonders deutlich werde diese Absicht durch die im Kabinettsentwurf des AMNOG vorgenommene Streichung der Bestimmung im Sozialgesetzbuch, nach der bisher sichergestellt ist, dass bei Anwendung des Kartellrechts im Sozialgesetzbuch V der Versorgungsauftrag der gesetzlichen Krankenkassen besonders zu berücksichtigen ist (§ 69, Abs. 2, Satz 3, SGB V). Die Kartellbehörden würden dadurch künftig von der Pflicht entbunden, bei der Anwendung von § 1 GWB (Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen) die Besonderheiten des Gesundheitswesens zu beachten. Die Umsetzbarkeit sozialrechtlich eindeutiger Maßgaben spielte demnach keine Rolle mehr.
Die 5. Rabattrunde der AOK-Gemeinschaft belegt aus Sicht Hermanns, dass das laufende Vergabeverfahren für alle Seiten Rechtssicherheit bietet und zu hohen Einsparungen führt. Von streng nach dem europäischen Kartellvergaberecht ausgeschriebenen AOK-Rabattverträgen profitieren gerade auch mittelständische Unternehmen, sagt Hermann. Auch unter den Vertragspartnern ab Oktober 2010 sind wieder sowohl große als auch kleinere Anbieter. Die hatten vor den AOK-Rabattverträgen keine relevanten Marktanteile.
An der jüngsten Ausschreibung haben sich insgesamt 36 Pharmahersteller beteiligt. Acht Unternehmen haben bislang einen Zuschlag für ein oder mehrere Regionallose erhalten. Für einen Wirkstoff ist das Vergabeverfahren noch nicht abgeschlossen. Die AOK schreibt bewusst über fünf Regionallose aus, um auch kleineren Unternehmen eine Chance zu geben, so AOK-Verhandlungschef Hermann. Weil wir pro Wirkstoff und Gebietslos nur einem Hersteller den Zuschlag erteilen, haben die Unternehmen weitgehende Planungssicherheit für mindestens zwei Jahre. Und die Patienten profitieren davon, dass sie über diesen Zeitraum stets das gleiche Medikament erhalten können. Anmerkung für die Redaktionen:
Eine Übersicht über die Wirkstoffe und Pharmaunternehmen, die die Zuschläge für die 5. Vertragstranche erhalten haben, gibt es unter http://www.aok-bv.de und http://www.aok-bw-presse.de