Berlin – Karl Lauterbach hat zur „Aufholjagd“ in Sachen Digitalisierung des Gesundheitssystems geblasen. Denn auf diesem Gebiet sei Deutschland “ein Entwicklungsland”. Die Diagnose ist zutreffend, leider. Doch wie steht es um die vorgeschlagene Therapie? Werden das Digitalgesetz und das Gesundheitsdatennutzungsgesetz die erhoffte Besserung bringen? Ist Deutschland endlich auf dem Weg zu einer digitalisierten und hocheffizienten medizinischen Versorgung? Zweifel sind angebracht. Das zeigen Forderungen und Kritik aus der medizinischen Praxis.
Von Frank Rudolph,
Geschäftsführer des Bundesverbandes Verrechnungsstellen Gesundheit (BVVG)
Man erinnert sich und denkt an Goethes “Faust”: “Die Botschaft hör´ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.” Rund zwei Jahrzehnte ist es her, dass ein sozialdemokratischer Professor namens Karl Lauterbach an der Seite einer SPD-Gesundheitsministerin namens Ulla Schmidt große Ideen zur Digitalisierung präsentierte. Ideen, von denen kaum mehr als eine Patienten-Chipkarte mit Passbild und maschinenlesbarer Adresse übrig blieb. Die Steuerzahler kostete das etliche Milliarden Euro. „Warum soll es auf einmal klappen?“, wollte die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ von Gesundheitsminister Lauterbach wissen. Seine Antwort: „Weil jetzt einfach etwas passieren muss. Digitalisierung ist kein Selbstzweck, sondern wichtiger Bestandteil moderner Medizin.“
E-Rezept und elektronische Patientenakte sollen Realität werden
Die Einsicht kam spät, aber besser spät als nie. Nun sollen also elektronisch ausgestellte Rezepte und digitale Gesundheitsakten schon bald für Millionen Patientinnen und Patienten zur Selbstverständlichkeit werden. Nach jahrelangen Verzögerungen und etlichen – teils hanebüchenen – technischen und organisatorischen Problemen sollen E-Rezepte gang und gäbe sein. Als ein Kernprojekt der Digitalisierung sollen Anfang 2025 die E-Patientenakten für alle kommen, die dies nicht erklärtermaßen für sich ablehnen.
„Dass alle Versicherten bei der elektronischen Patientenakte die Möglichkeit zum Opt-Out haben, ist folgerichtig“, erklärte Tino Sorge, der gesundheitspolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Folgerichtig ist ebenso, dass Gesundheitsdaten endlich für die private Forschung zugänglich sind.“ Zu Recht verwies Sorge auch darauf, dass beides von Lauterbach und der SPD „über Jahre blockiert“ wurde. Es sei zudem schade, dass die überfälligen Digitalgesetze erst nach der Hälfte der Legislatur zu Stande kamen, „zumal die unsichere Haushaltslage für die Digitalisierung des Gesundheitswesens weiter Unwägbarkeiten birgt“.
Aufholjagd oder Jägerlatein?
Mit anderen Worten: Ob Lauterbachs Digitalisierungsfahrplan eingehalten werden kann, muss sich erst noch in der Praxis zeigen. Wird das Befüllen der Patientenakte leicht sein und schnell gehen? Wird der Austausch von Daten zwischen den einzelnen Ärzten, Laboren und Apotheken reibungslos verlaufen? Werden Hardware und Software zuverlässig funktionieren? Wird der bürokratische Aufwand kleiner – oder wenigstens nicht noch größer? Oder werden Patientinnen und Patienten gemeinsam mit der Ärzteschaft und den Krankenkassen durch eine mangelhaft vorbereitete und am Ende chaotische Digitalisierung in ein heilloses Durcheinander gestürzt? Ein fröhliches Halali, um im Bild der „Aufholjagd“ zu bleiben, wäre erst gewiss, wenn alle Beteiligten die Erfahrung machen, dass sich E-Akte und E-Rezept im Alltag zeit- und kostensparend handhaben lassen.
Um so wichtiger wird es sein, schon in der Einführungsphase jedweden Anflug von Jägerlatein zu vermeiden und Klartext zu sprechen: Fehler und Irrtümer, die bei einem so umfangreichen Projekt kaum vermeidbar sind, müssen rasch erkannt, offen eingeräumt und transparent korrigiert werden.
Praktiker von Anfang an einbeziehen
Dafür müssen diejenigen, die die Digitalisierung im Alltag umsetzen sollen, von vornherein auf Augenhöhe beteiligt werden – Ärztinnen und Ärzte in den Praxen und Kliniken. Wer sich bei ihnen umhört, stößt auf erhebliche Zweifel an der Alltagstauglichkeit vieler Komponenten der weitgehend an grünen Tischen des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) entworfenen Digitalisierung.
Niedergelassene Ärztinnen und Ärzte kritisieren, dass die zur Verfügung stehenden Tools oft mehr Verzögerungen und Ärger als Nutzen bringen. Das ergab eine Umfrage des Zentralinstituts für die vertragsärztliche Versorgung, die kürzlich bei der Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) vorgestellt wurde. Eine der Kernforderungen der KBV ist die nach ordentlich funktionierenden Praxisverwaltungssystemen: „Jede Minute für das Warten auf den Signaturabgleich beim elektronischen Rezept fehlt in der Versorgung“, kritisierte KBV-Vorstandsmitglied Sibylle Steiner. „Die Politik muss endlich erkennen, was für eine entscheidende Rolle die Praxisverwaltungssysteme für die Digitalisierung spielen.“
Digitalisierung von den Praxen aus denken
Fast 88 Prozent der befragten niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte erklärten laut KBV, durch die geplanten Digitalisierungsbemühungen werde der Praxisablauf beeinträchtigt. Lediglich fünf Prozent der Praxen gaben an, dass sie keine Probleme mit ihrer Hard- und Software zur Praxisverwaltung hätten – demgegenüber berichtete fast die Hälfte über wöchentliche oder monatliche Probleme.
Das sollte im BMG Alarmglocken läuten lassen. „Damit den Praxisteams mehr Zeit für diejenigen Herausforderungen bleibt, bei denen sie als Ansprechpartner für Patientinnen und Patienten wirklich gebraucht werden, müssen wir Digitalisierung von den Praxen und nicht vom Ministersessel aus denken“, betonte Sibylle Steiner, wie das „Deutsche Ärzteblatt“ berichtete.
Dass dies nicht in ausreichendem Maße geschehen ist, gehört zu den offenkundigen Mängeln des Digitalgesetzes. Es ist aber auch bezeichnend für die Arbeitsweise eines Ministers, der seine Politik allem Anschein nach lieber im Elfenbeinturm entwickelt anstatt sich den realen Problemen unseres Gesundheitswesens und den Forderungen der dort tätigen Fachleute zu stellen.
Vor dem Roll-Out muss Praxistauglichkeit erwiesen sein
Zu den Folgen gehört, dass Nachbesserungen am Digitalgesetz erforderlich sein werden. Denn der Umgang mit der elektronischen Patientenakte und dem E-Rezept kann letztlich nur dann nutzbringend funktionieren, wenn die konkreten Rahmenbedingungen stimmen.
Das wurde kürzlich auch beim Hausärztinnen- und Hausärztetag in Berlin deutlich. Die Teilnehmer verabschiedeten ein ganzes Paket von Forderungen zur Umsetzung der Digitalisierungsstrategie. Kernpunkt: Praktikerinnen und Praktiker sind „eng in alle technischen Entwicklungen und Konzeptionen einzubeziehen“. Anwendungen und Komponenten der neuen Digitalwelt müssen vor einem Roll-Out unter Realbedingungen flächendeckend getestet und dürfen erst dann eingeführt werden, wenn sie erwiesenermaßen fehlerfrei funktionieren.
Digitalisierung muss Bürokratie reduzieren
Jeder, der im niedergelassenen Bereich tätig ist, weiß aus leidvoller Erfahrung, wie wichtig der Faktor Zeit ist. Schon seit Jahren wird den Praxen eine überbordende Kontroll- und Berichtsbürokratie zugemutet, die einfach viel zu viel von der Zeit konsumiert, die eigentlich den Patientinnen und Patienten gewidmet werden sollte. Hier wird am Ende der Lackmustest für Erfolg oder Misserfolg der „Aufholjagd” erfolgen: Wird sie zu einer Digitalisierung führen, die Entlastung schafft, bürokratische Aufwände deutlich reduziert, Ressourcen schont und Mehrwerte für die medizinische Versorgung von Kranken bietet? Oder steuern wir mit Wunschträumen, die an grünen Tischen entstanden sind, auf ein digitales Wirrwarr zu?
Der Autor: Frank Rudolph (Jahrgang 1960) ist mit der Kalkulation und Abrechnung medizinischer Leistungen seit vielen Jahren vertraut. Als Geschäftsführer des Bundesverbandes Verrechnungsstellen Gesundheit e.V. (BVVG) kennt er die Folgen gesundheitspolitischer Weichenstellungen in Bund und Ländern für die medizinische Versorgung der Bevölkerung – insbesondere hinsichtlich des Verhältnisses von Kosten und Nutzen. Der in Essen geborene Betriebswirt ist Mitglied der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU/CSU. Von 2007 bis 2013 war Rudolph Mitglied der Bundeskommission Gesundheit. Seit 2007 ist er 1. stellvertretender Vorsitzender des Gesundheitspolitischen Arbeitskreises der CDU NRW.