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Die Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft kritisiert AWMF-Leitlinienempfehlungen mit eigener Stellungnahme
Musiktherapeutisches Setting

Die Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft kritisiert AWMF-Leitlinienempfehlungen mit eigener Stellungnahme

Keine Musiktherapie mehr bei Autismus?

Berlin – 29. April 2021

Musiktherapie für Menschen aus dem Autismus-Spektrum hat Potential!

Zu dieser Bewertung kommt die Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft (DMtG) in ihrer Stellungnahme im Unterschied zu den jetzt veröffentlichten S3-Leitlinien zur Therapie bei Autismus-Spektrum-Störungen. Die Leitlinien belegen Musiktherapie zweimal mit einer Negativ-Empfehlung. Improvisationsbasierte und familienorientierte Musiktherapie seien zur Behandlung autistischer Kernsymptomatik nicht ausreichend wirksam. Damit sollen sie bei der therapeutischen Versorgung nicht in Betracht kommen. Die DMtG hat als beteiligte Fachgesellschaft bei der Leitlinienerstellung zwei wissenschaftlich begründete Sondervoten eingereicht. Musiktherapie bei Autismus hat eine lange Tradition und ist in Deutschland in Kliniken, in sozialpädiatrischen Zentren wie auch ambulant seit 40 Jahren fest etablierter Bestandteil in der Versorgung. „Mit der offiziellen Stellungnahme wie auch mit den Sondervoten sollen für Patientinnen und Patienten, die von musiktherapeutischer Förderung profitieren, Nachteile vermieden werden“, bekräftigt der Vorstandsvorsitzende der DMtG, Prof. Dr. Lutz Neugebauer: „Kostenträger wie Leistungsempfänger können somit die Empfehlungen der neuen Leitlinien besser interpretieren und einordnen.“

Sondervotum der Deutschen Musiktherapeutischen Gesellschaft

Die DMtG kritisiert die einseitig begründete Entscheidung, nur eine einzige randomisiert kontrollierte Studie für den Ausschluss improvisationsbasierter Musiktherapie heranzuziehen. Andere Studien mit einem positiven Resultat, die in einem Cochrane Review zusammengefasst sind, wurden für die Beurteilung nicht berücksichtigt. „Diese gemischte Ergebnislage lässt eine Negativ-Empfehlung nicht zu. Wir brauchen deshalb weitere Forschung, um die Potenziale von Musiktherapie richtig einordnen zu können“, so Neugebauer. Für den Einbezug der Eltern/Familie bei musiktherapeutischen Behandlungen kommt die DMtG in ihrem Sondervotum sogar zu einer vorsichtigen Positivempfehlung. Trotz kleiner Stichprobe kommt die zitierte Studie zu dem Ergebnis, dass Musiktherapie unter Einbezug von Eltern und Familie bei Kindern mit sprachlichen Defiziten die soziale Interaktion und Kommunikation verbessern kann.

„Musiktherapie baut auf nonverbaler musikalischer Interaktion auf, bietet einzigartige Möglichkeiten auf der wichtigen emotionalen Ebene. Sie hilft basale Entwicklungschancen zu verbessern und einen Zugang zu Kindern mit kognitiven und sprachlichen Einschränkungen zu finden. Musiktherapie hilft Kindern und Jugendlichen, ihre psychomotorische Anspannung zu regulieren und ihre Wahrnehmung besser zu koordinieren. Dies ist doch die Voraussetzung dafür, dass verhaltenstherapeutische Verfahren, die gemäß den Leitlinien primär empfohlen werden, überhaupt angewendet werden können“, erklärt Prof. Neugebauer.

Prof. Neugebauer fordert, die ganze Breite der wissenschaftlichen Evidenz einzubeziehen, um Fehlschlüsse zu vermeiden: „Mir ist unerklärlich, warum die Leitlinienkommission angesichts vielfältiger Behandlungsmethoden allein lerntheoretische Verfahren favorisiert. Dies wird dadurch deutlich, dass musiktherapeutische Methoden wie Singen, Klatschen und Trommeln zur Sprachförderung empfohlen werden, die Musiktherapie selbst aber nicht eingesetzt werden soll. Wenn zudem Sondervoten verschiedener Fachgesellschaften nicht in den Leitlinien lesbar sind, sondern im Methodenreport „versteckt“ werden, ist das bedenklich. Damit werden Zusatzinformationen vorenthalten. Solch eine eingeschränkte medizinische Sichtweise kann man sich heute im interdisziplinären Kontext nicht mehr leisten!“

Unkritische Rezeption der S3-Leitlinie wird den Patientinnen und Patienten nicht helfen

Musiktherapie kann insbesondere bei den Menschen aus dem Autismus-Spektrum mit zusätzlicher Intelligenzminderung sinnvoll und förderlich sein, die durch etablierte, verhaltenstherapeutische Programme überfordert sind. Aus Sicht der DMtG ist es ethisch fragwürdig, wenn die Negativempfehlungen dazu führen sollten, dass Musiktherapie neben anderen Verfahren jenseits der Verhaltenstherapie für diese Gruppe von Menschen mit hohem Hilfebedarf nicht mehr zugänglich ist.

Die DMtG ist davon überzeugt, dass sich die Potentiale musiktherapeutischer Interventionen bei Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung weiterhin in der Praxis bewähren. Sie setzt sich mit Nachdruck dafür ein, dass sich die vorliegende und zu erwartende Evidenz der Wirksamkeit von Musiktherapie bei ASS adäquat in den Neuauflagen der AWMF-Leitlinien widerspiegeln wird.

Die Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft stellt auf ihrem Webportal musiktherapie.de die offizielle Stellungnahme zur S3-Leitlinie Autismus-Spektrum-Störungen mit den Sondervoten zur Verfügung.

Die Stellungnahme der DMtG wird von der Wissenschaftlichen Fachgesellschaft der Künstlerischen Therapien (WFKT) unterstützt.

Die Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft (DMtG) ist mit 1.600 Mitgliedern der größte Fach- und Berufsverband der Musiktherapeutinnen und Musiktherapeuten in Deutschland. Der Verband setzt sich für die Verankerung der Musiktherapie im Gesundheitswesen ein. Aufgrund von wissenschaftlich anerkannten Nachweisen über die positive Wirkung ist Musiktherapie bereits jetzt in zahlreichen medizinischen Leitlinien verankert (z.B. Demenz, Schlaganfall, Psychosoziale Therapien). Verbindliche Ausbildungs- und Qualitätsstandards, abgebildet im DMtG-Zertifizierungsverfahren, geben den Patientinnen und Patienten ein größtmögliches Maß an Sicherheit, gerade wegen eines fehlenden Berufsgesetzes.