Berlin – Der Deutsche Schmerz- und Palliativtag 2022 begann heute unter dem Motto „Endlich leben“ mit einem Exzellenzvortrag von Dr. Eckart von Hirschhausen. Sein Appell: Auch bei Schmerzen den Humor nicht zu verlieren. Die Tagungspräsidenten Dr. Johannes Horlemann, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin e.V. (DGS), und Norbert Schürmann, Vizepräsident der DGS, bekräftigten zur Eröffnung die Forderung nach einer besseren Versorgung chronischer Schmerzpatienten. Zum Auftakt gaben sie einen Überblick über die Themen des Kongresses. Dazu gehören Opioide und Cannabinoide in der Schmerztherapie, der Umgang mit Kopfschmerz sowie psychosoziale Aspekte des Schmerzes. PD Dr. Michael Überall stellte die Bedeutung einer Zweitmeinung für die multimodale Schmerztherapie heraus.
„Wir sind Schmerz- und Palliativmediziner geworden, damit unsere Patienten gut versorgt sind und wieder ‘endlich leben‘ – nicht nur in der Palliativsituation“, so Horlemann. Bei der Kongresseröffnung betonte der DGS- und Tagungs-Präsident, dass die Arbeit mit Schmerz- und Palliativ-Patienten viel Engagement und Empathie, aber auch aktuelles Wissen erfordere. Dieses vermittelt der Kongress in rund 70 Symposien, Seminaren und Curricula an Ärzte, Psycho- und Physiotherapeuten sowie Apotheker und medizinische Fachangestellte.
Hirschhausen: Schmerzfreiheit und Humor bleiben auch am Lebensende wichtig
Der Mediziner, Wissenschaftsjournalist und Kabarettist Dr. Eckart von Hirschhausen ist überzeugt, dass Humor auch in kritischen Situationen hilft. „In einem wissenschaftlichen Projekt auf der Palliativstation der Uniklinik Bonn wurde untersucht, was Menschen am Ende ihres Lebens für wichtig halten. Zu den Top Ten gehören Schmerzfreiheit, anderen nicht zur Last fallen und den Humor nicht verlieren“, so Hirschhausen, der 2008 seine Stiftung „Humor hilft heilen“ gründete. In seinem Exzellenzvortrag thematisierte Hirschhausen auch den Einfluss von Pflegemangel, Pandemie und Klimakrise auf die Schmerz- und Palliativmedizin.
Vielfältige Themen des Kongresses: Von Cannabinoiden bis Hämophilie
Tagungspräsident Dr. Johannes Horlemann: „Die typischen Patienten werden in geltenden Leitlinien bzw. in der Studienlage oder Grundlagenforschung kaum abgebildet“. Horlemann plädierte für die Nutzung der Real-World-Evidenz, wie z. B. aus dem PraxisRegister Schmerz. „Wir brauchen PraxisLeitlinien, weil sie wissenschaftliche Studien mit Daten aus der Versorgung, Patientenbewertungen und Erfahrungen der Therapeuten verbinden.“ Weitere Themen des Deutschen Schmerz- und Palliativtages sind Cannabinoide und Opioide in der Schmerztherapie, die spezielle Behandlung von Kopf-, Rücken- und neuropathischen Schmerzen sowie gesundheitspolitische Entwicklungen. Auch Schmerzen bei Hämophilie, verschreibungspflichtige Apps, Schmerztherapie bei Psychosen und Borderline-Störungen, Schmerzen vaskulärer Genese sowie Endometriose werden in diesem Jahr thematisiert.
Spenden-Symposium für die Vertriebenen aus der Ukraine
Aus aktuellem Anlass wurde unter dem Motto „Hilfe für traumatisierte Schmerzpatienten“ zudem kurzfristig ein Symposium zu den Folgen des Krieges in der Ukraine im Kongressprogramm ergänzt. Die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin möchte das Symposium für eine Hilfsaktion für die Vertriebenen aus der Ukraine nutzen und ruft in diesem Zusammenhang zu Spenden für die Organisation Ärzte ohne Grenzen e.V. auf. (Empfänger: Ärzte ohne Grenzen e.V., Spendenkonto: Bank für Sozialwirtschaft, IBAN: DE72 3702 0500 0009 7097 00, Verwendungszweck Ukraine-Krise, Stichwort: DGS – Schmerz- und Palliativtag 2022). Der Appell der Fachgesellschaft: „Bitte unterstützen Sie unsere Hilfsaktion, damit die medizinische Versorgung der Verletzten und Vertriebenen verbessert werden kann. Wir sammeln Spenden über Ärzte ohne Grenzen, weil unsere Kolleginnen und Kollegen vor Ort wissen, wo das Leid am größten ist.“
Palliativmedizinischer Schwerpunkt
Passend zum palliativmedizinischen Schwerpunkt des Kongresses kooperiert die DGS mit der Österreichischen Palliativgesellschaft (OPG). Gemeinsam mit der OPG sollen palliativmedizinische Themen medizinisch, rechtlich und ethisch diskutiert werden. „Wir sind auch sehr gespannt auf das Symposium zum ärztlich assistierten Suizid, mit dem wir auch eine gesellschaftliche Diskussion anstoßen wollen“, so Schürmann. Zum palliativmedizinischen Schwerpunkt gehören auch onkologische Themen. „42 Prozent der Patienten mit fortgeschrittenen Krebserkrankungen haben in der letzten Lebensphase Infektionen und der Anteil der schwerwiegenden Komplikationen ist weitaus höher als bei gesunden Patienten. Die neu überarbeitete PraxisLeitlinie Tumorschmerz 3.0 gibt neue Empfehlungen zur medikamentösen Therapie und betont die Patientenautonomie“, sagte Schürmann.
OP oder multimodale Schmerztherapie?
PD Dr. Michael A. Überall, Vizepräsident der DGS und Präsident der Deutschen Schmerzliga (DSL) e.V., analysierte die Bedeutung einer qualifizierten zweiten Meinung vor der Entscheidung für oder gegen eine schmerzbedingte Wirbelsäulenoperation. „Systematische Untersuchungen belegen nicht nur eine auffällige Diskrepanz zwischen der schmerzmedizinischen Notwendigkeit und den faktisch realisierten Operationen, sondern auch bzgl. der Bewertung deren grundsätzlicher Sinnhaftigkeit“, so Überall. „Allem Anschein nach folgt die Versorgung in Deutschland hier nicht dem Bedarf, sondern dem Angebot, wobei diesbezüglich offensichtlich finanzielle Anreize für Behandler und Einrichtung den Blick für die schmerzmedizinische Rationale verstellen“. Eine multimodale Therapie sei in vielen Fällen die bessere – und vor allem nachhaltigere – Option.
Nach Meinung des Schmerzmediziners sollte die Entscheidung für beziehungsweise gegen eine operative Intervention unter Einbeziehung unabhängiger konservativer Fachexperten im Rahmen einer interdisziplinären Schmerzkonferenz getroffen werden und nicht – wie derzeit durch den Gemeinsamen Bundesausschuss festgelegt – monodisziplinär. „Es gilt im Rahmen des Zweitmeinungsverfahrens nicht die grundsätzliche Operabilität im Rahmen technischer Möglichkeiten zu klären, sondern deren mögliche Konsequenzen im Rahmen einer individualisierten Nutzen-Risiko-Abwägung“. Um dem großen Problem unnötiger Wirbelsäulenoperationen gerecht zu werden, schlägt Überall einen Wechsel der aktuellen „pay for procedure“-Strategie hin zu einem „pay for results“-Konzept vor, um Leistungserbringer stärker bzgl. ihrer Verantwortung für eine bedürfnisorientierte und nachhaltige Versorgung Betroffener zu sensibilisieren.
„Es kann nicht sein, dass Operateure und Krankenhäuser sich hier auf dem Rücken schmerzkranker Menschen eine goldene Nase verdienen und Betroffene dann mit den Folgen ihrer Operationen alleine gelassen werden bzw. die konservative Schmerzmedizin bzgl. der Schadensbegrenzung in die Pflicht genommen wird“, so der Experte, der mit seinem Institut in Nürnberg im Auftrag zahlreicher Krankenversicherungen seit Jahren in Deutschland Konzepte der Zweitmeinung vor schmerzbedingten Wirbelsäulenoperationen evaluiert und Betroffene begleitet.
Kongressteilnahme auch für Berufstätige
Die Veranstaltungen des Deutschen Schmerz- und Palliativtags finden an vier Tagen nachmittags bis abends sowie am Samstagvormittag statt. So haben auch Berufstätige die Möglichkeit, an Seminaren und Symposien teilzunehmen. Insgesamt können die Teilnehmer 27 CME-Punkte erwerben. Viele der Vorträge sind für registrierte Teilnehmer auch nach dem Kongress bis November 2022 on demand abrufbar.
Steckbrief Deutscher Schmerz- und Palliativtag 2022 – ONLINE
Thema: Individualisierung statt Standardisierung – Schwerpunkt: ENDLICH LEBEN!
Termin: 22. bis 26. März 2022
Ort: Der Kongress findet online statt.
Veranstalter: Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e.V.
Tagungspräsidenten: Dr. Johannes Horlemann / Norbert Schürmann
Weiterführende Links:
www.schmerz-und-palliativtag.de
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Die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e.V. (DGS) ist mit rund 4.000 Mitgliedern und 120 Schmerzzentren die führende Fachgesellschaft zur Versorgung von Menschen mit chronischen Schmerzen. In enger Zusammenarbeit mit der Deutschen Schmerzliga e. V. ist es ihr vorrangiges Ziel, die Lebensqualität dieser Menschen zu verbessern – durch eine bessere Diagnostik und eine am Lebensalltag des Patienten orientierte Therapie. Dafür arbeiten die Mitglieder der DGS tagtäglich in ärztlichen Praxen, Kliniken, Schmerzzentren, Apotheken, physiotherapeutischen und psychotherapeutischen Einrichtungen interdisziplinär zusammen. Der von der DGS gestaltete jährlich stattfindende Deutsche Schmerz- und Palliativtag zählt seit 1989 auch international zu den wichtigen Fachveranstaltungen und Dialogforen. Aktuell versorgen etwa 1.321 ambulant tätige Schmerzmediziner die zunehmende Zahl an Patienten. Für eine flächendeckende Versorgung der rund 3,9 Millionen schwerstgradig Schmerzkranken wären mindestens 10.000 ausgebildete Schmerzmediziner nötig. Um eine bessere Versorgung von Menschen mit chronischen Schmerzen zu erreichen, fordert die DGS ganzheitliche und bedürfnisorientierte Strukturen – ambulant wie stationär – sowie eine grundlegende Neuorientierung der Bedarfsplanung.