Berlin – Wissenschaftlich erprobte Maßnahmen zur Lebensrettung werden aus ideologischen Gründen nicht angewendet
Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marlene Mortler (CSU), und das Bundeskriminalamt (BKA) haben gestern die Zahl der Drogentoten im Jahr 2016 und ihren Bericht zur „Rauschgiftlage“ vorgestellt. 1.333 „rauschgiftbedingte Todesfälle“ wurden demnach im letzten Jahr registriert – 9 Prozent mehr als 2015. Haupttodesursache war die Überdosierung von Heroin.
Dazu erklärt Björn Beck vom Vorstand der Deutschen AIDS-Hilfe:
„Anders als Marlene Mortler sagt, hat die steigende Zahl der Todesfälle nur am Rande mit Legal Highs, steigender Stoffqualität oder sinkenden Preisen zu tun. Hauptgrund ist die Drogenpolitik im Bund und vielen Ländern, die auf verschiedene lebensrettende Maßnahmen bewusst verzichtet.“
Wie die gesamte Fachwelt, fordert die Deutsche AIDS-Hilfe seit langem ein Umdenken in der Drogenpolitik und bei der Justiz.
„Statt sich auf Nebenschauplätzen zu verzetteln und Drogenkonsumenten immer intensiver strafrechtlich zu verfolgen, müssen wir in die Lebensrettung investieren“, betont Björn Beck.
Öffentliches Bedauern ist scheinheilig
Beck weiter: „Die Drogenbeauftragte steht in der Pflicht, die wissenschaftlich erprobten Mittel der Lebensrettung und Prävention der Bundesregierung und den Ländern zu vermitteln. Das alljährliche öffentliche Bedauern hilft niemandem, sondern verschleiert die eigene Verantwortung. Man kann es nur noch scheinheilig nennen.”
Die ins Spiel gebrachte Zwangsberatung gehört ganz sicher nicht zu den gebotenen Maßnahmen. „Sie ist fachlich und ethisch unerträglich“, erklärt Beck. „Zwang ist der Weg, der in der Drogenpolitik gescheitert ist. Hier sieht man sehr deutlich, wie eine ideologische Herangehensweise wirklich wirksame Interventionen verhindert.“
Wirksame Maßnahmen sind längst verfügbar
International besteht unter Expert_innen Konsens darüber, welche Maßnahmen wirken. Dazu gehören
• Drogenkonsumräume, in denen man unter hygienischen Umständen konsumieren kann, zu Safer Use beraten wird, Impfungen und Tests auf Hepatitis angeboten bekommt und im Notfall medizinische Hilfe erhält
• die Vergabe steriler Konsumutensilien und andere Präventionsmaßnahmen in Haft (viele der Drogentoten waren Häftlinge)
• die Abgabe des Opiat-Antagonisten Naloxon auch an Laien, um bei Überdosierungen lebensnotwendige Hilfe zu leisten
• die Substitutionsbehandlung, die Drogengebraucher_innen sozial stabilisiert, gesundheitliche Schäden verhindert und Beschaffungskriminalität senkt.
Dramatische Versorgungslücken
Drogenkonsumräume aber gibt es bislang nur in sechs der 16 Bundesländer. In Bayern, dem Land mit den meisten Drogentodesfällen (321), und in Baden Württemberg (170) gibt es keinen einzigen Drogenkonsumraum.
Auch in kleineren Städten und dem Land bleibt Konsumierenden meist nur die offene Drogenszene oder der Konsum zu Hause, wo im Notfall keine medizinische Hilfe zur Verfügung steht – von Infektionsprophylaxe ganz zu schweigen.
Sterile Spritzen sind bundesweit nur in einer einzigen Haftanstalt erhältlich, Naloxon wird bisher nur vereinzelt durch die Initiative mutiger Vor-Ort-Projekte vergeben.
Bei der Substitutionsbehandlung schließlich haben erst massive Versorgungsengpässe und der Druck von Ärzt_innen, Patient_innen und Fachverbänden dazu geführt, dass die Drogenbeauftragte nach jahrelangen Verzögerungen substanzielle Veränderungen der bundeseinheitlichen Richtlinien zur Substitution mit auf den Weg gebracht hat.
„Es ist erschütternd zu sehen, wie Menschen sterben, weil ihnen die längst verfügbare Hilfe vorenthalten wird“, sagt DAH-Vorstand Björn Beck.
Strafverfolgung schießt mit Kanonen auf Spatzen
Die „Polizeiliche Kriminalitätsstatistik“ weist für 2016 insgesamt 302.594 Rauschgiftdelikte aus,7 % mehr als 2015. Davon entfallen allerdings gut 76 % (231.926) auf „allgemeine Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz“, worunter vor allem der Besitz von Drogen fällt – und hier insbesondere von Cannabis und Zubereitungen (145.915 = 63 Prozent der „allgemeinen Verstöße“).
„Seit Jahren schießt man hier mit Kanonen auf Spatzen“, kritisiert Beck. „Diese Strafen begleiten und beeinträchtigen das Leben von Millionen Menschen, zum Beispiel wenn angestrebte berufliche Entwicklungen beendet werden – zum Schaden unserer gesamten Gesellschaft.“
Weitere Informationen:
Bericht der Drogenbeauftragten