Berlin – Das deutsche Gesundheitssystem bedarf dringend wichtiger Korrekturen durch versorgungsnahe Forschung und Entwicklung (F&E). Das Deutsche Netzwerk Versorgungsforschung (DNVF) möchte in einem am Nutzen für Patient:innen orientierten Gesundheitssystem evidenzbasierte Innovationen schneller in die Versorgung bringen. Dies erfordert:
– eine stärkere Orientierung an Patient:inneninteressen (1)
– besseren Datenzugang durch ein zentrales Bundesinstitut (2)
– Förderung der zeitnahen Implementierung hochwertiger Leitlinienempfehlungen (3)
– einen Ausbau des Innovationsfonds (4)
1.) Patient:innenorientierung und-partizipation in den Fokus stellen
Aufgrund der demographischen Entwicklung werden zukünftig weniger Gesundheitsprofessionelle für mehr vornehmlich chronisch Kranke zur Verfügung stehen. Um eine qualitativ hochwertige, patient:innenorientierte und finanzierbare Versorgung zu gewährleisten, wird die Einbeziehung und Mitgestaltung des Gesundheitswesens durch Patient:innen und Angehörige immer wichtiger. Förderstrukturen müssen deshalb so verändert werden, dass Forschungsthemen patient:innenrelevanter ausgewählt werden. Entsprechende Strukturen zur Förderung der Patient:innenbeteiligung sind aufzubauen wie z.B. Patient:innenbeiräte in Comprehensive Cancer Centers (CCC). Darüber hinaus muss der strukturelle Einfluss der Patient:innen z.B. im G-BA gestärkt (mehr Vertreter:innen und Stimmrecht) und die Professionalisierung und die Unabhängigkeit von Patient:innenorganisationen gefördert werden.
Entscheidend ist ein regional gesteuertes Versorgungsangebot, dass am Nutzen der Patient:innen ausgerichtet ist. Partikularinteressen sollen deshalb abgebaut werden.
2.) Besserer Datenzugang durch ein zentrales Bundesinstitut
Zur nachhaltigen Verbesserung der Qualität in der medizinischen Versorgung ist eine transparente Datenerfassung und -darstellung unabdingbar. Wir benötigen eine zeitnahe und transparente Darstellung dessen, was im System stationär und ambulant passiert. Die erhobenen Daten sollen unter geregelten Nutzungsbedingungen der Forschung zur Verfügung stehen.
Wir benötigen zur Verknüpfung eine sektorenübergreifende einheitliche ID (z.B. KV-Nummer), die es ermöglicht, unterschiedliche Datensätze mit einander zu verknüpfen. Patientenindividuelle Daten sollten dann auch mit einer höheren Qualität und Granularität in anonymisierter Form eingebunden werden können.
Wir empfehlen den Aufbau eines zentralen Bundesinstituts, das alle relevanten Daten zeitnah zur Verfügung stellt und weiß, welche Daten wo erhoben und gelagert werden. Das zentrale Bundesinstitut ist sternförmig mit anderen dezentralen Datenquellen verknüpft, hat einen direkten Zugriff auf alle gesetzlich erhobenen Daten aus dem Gesundheitssystem (z.B. Krebsregisterdaten, ambulante Daten, GKV-Daten, Medizin-Informatik Initiative) und kann sie anlassbezogen und zeitnah zur Verfügung stellen. Dabei ist das neu zu gründende Institut unabhängig und frei von Partikularinteressen. Zusätzlich soll es auch die Möglichkeit von Datenspenden ihrer je eigens erhobenen Daten durch Patient:innen und Bürger:innen an das zentrale Institut geben.
Die Daten sind notwendig, um die regionale und überregionale Gesundheitsversorgung transparent sektorenunabhängig darzustellen, um regional zu steuern und Qualitätsverbesserungen auf den Weg zu bringen.
3.) Wissen in die Praxis bringen
Wir müssen das gesicherte medizinische Wissen in die Praxis bringen, die Implementierung der Leitlinien flächendeckend fördern und gleichzeitig die Nutzung von Leitlinien vereinfachen. Dazu sollte die AWMF finanziell gestärkt und in die Lage versetzt werden, Living Guidelines zu allen relevanten Behandlungsfeldern herauszugeben und aktuell zu halten. Dazu ist ein System ähnlich der ‚MAGICapp‘ notwendig (www.bmj.com/content/370/bmj.m3379). Anzustreben sind Leitlinien, die in den jeweiligen Versorgungssettings praktikabel umsetzbar sind. Gleichzeitig ist eine höhere Verbindlichkeit zu schaffen.
Vor dem Hintergrund des demographischen Wandels, der Kostensteigerungen bei einigen Therapien (z.B. in der Onkologie und bei seltenen Erkrankungen), der großen regionalen Unterschiede und der Therapiefreiheit sollte eine stärkere Verbindlichkeit der Umsetzung von evidenzbasierten Leitlinienempfehlungen, beispielsweise durch Positivlisten, angestrebt werden.
4.) Innovationsfonds ausbauen und Unabhängigkeit stärken
Evidenzbasierte Innovationen müssen schneller in der Versorgung ankommen. Zur Sicherstellung und Verbesserung der Versorgungsqualität und der Patient:innensicherheit muss die unabhängige Versorgungsforschung in Deutschland weiter ausgebaut und um die Implementierungsforschung ergänzt werden. Der Innovationsfonds sollte für diesen Zweck erweitert und verstetigt werden. Über die Mittelvergabe muss ein unabhängiges wissenschaftliches Gremium mit Patient:innenbeteiligung entscheiden.
Notwendig ist gleichzeitig eine stärkere Förderung von Implementierungsforschung und das Monitoring von Implementierungsprozessen.
Das Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e.V. (DNVF)
Der gemeinnützige Verein „Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e.V.“ (DNVF) wurde am 2. Mai 2006 in Berlin gegründet. Aktuell sind 50 medizinische, pflegerische und gesundheits-wissenschaftliche Fachgesellschaften, 43 wissenschaftliche Institute und Forschungsverbünde, 22 Verbände sowie 280 Wissenschaftler:innen Mitglieder im DNVF. Das DNVF ist ein interdisziplinäres Netzwerk, das allen Institutionen und Arbeitsgruppen offensteht, die mit der Sicherung der Gesundheits- und Krankenversorgung unter wissenschaftlichen, praktischen oder gesundheitspolitischen Gesichtspunkten befasst sind.