Berlin – Kinder- und Jugendärzte und Hygieniker, vertreten durch ihre Fachgesellschaften, zeigen mit dieser Stellungnahme, dass das Offenhalten der Gemeinschaftseinrichtungen für Kinder und Jugendliche medizinisch-infektiologisch und sozial unter Einhaltung der empfohlenen Hygienemaßnahmen möglich und sinnvoll ist. Die Eindämmung der Pandemie durch die Verhinderung der Übertragungen hat ihren Schwerpunkt in der Kontrolle der Risikokontakte unter Erwachsenen. Die Verantwortung liegt bei Eltern, Betreuern, Lehrern und der gesamten erwachsenen Bevölkerung, ihre ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen vor Ansteckungen zu schützen und ihnen durch ihr hygienebewusstes Verhalten den Besuch von Gemeinschaftseinrichtungen zu ermöglichen.
Nach Ausbruch der SARS-CoV-2 Pandemie wurden ab März 2020 in Deutschland in Anlehnung an Erfahrungen mit Influenza-Pandemien die Gemeinschaftseinrichtungen für Kinder und Jugendliche geschlossen. Inzwischen wissen wir, dass diese Maßnahmen nicht geeignet sind, die Pandemie durch das neue Coronavirus einzudämmen. Gemeinschaftseinrichtungen für Kinder (Schulen und Kindertagesstätten) sind bei Einhaltung der in den Hygieneplänen vereinbarten Schutzmaßnahmen vergleichsweise sichere Orte und keine Treiber dieser Pandemie. Einzelne Fälle von SARS-CoV-2 Infektionen werden in die Einrichtungen hereingetragen, es kommt aber nur selten zur Ausbreitung auf weitere Personen. Hinweise auf Ausbrüche mit vielen nachgewiesenen sekundären Infektionsfällen (sogenannte Superspreader Events) gibt es bisher nicht. Die Datenlage zeigt, dass Infektionen sehr viel häufiger von Erwachsenen auf Kinder übertragen werden, als umgekehrt. Aktuelle Arbeiten zeigen eine Ansteckungshäufigkeit von Kind zu Kind von nur 0,3%, gegenüber 4,4% bei Erwachsenen (Macartney K et al. Lancet Child Adolesc Health 2020; 4: 807–16; Published Online August 3, 2020). Schulen sind auch im aktuellen Stadium der 2. Welle keine Hotspots der Pandemie.
Auswirkungen der Pandemie auf Kinder
Die Schließungen während der ersten Welle führten zu vielen einschneidenden und unbeabsichtigten Benachteiligungen für Kinder und ihre Familien: Bildungsdefizit, Entwicklungsbeeinträchtigung insbesondere auch bei Kindern mit besonderem Förderbedarf, Gefährdung des Kindeswohls, Überforderung der Familien mit z.T. gleichzeitiger ökonomischer Schieflage, besonders in bildungsfernen und sozioökonomisch benachteiligten Familien.
Es ist zudem deutlich geworden, dass über die erzieherisch-pädagogischen Aufgaben hinaus Kindertagesstätten, Kindergärten und Schulen systemrelevante Bedeutung für die psychosoziale und psychomotorische Entwicklung der Kinder und Jugendlichen sowie deren Sicherheit und Unversehrtheit haben. Gemeinschaftseinrichtungen erlauben zudem das Ausüben der Berufstätigkeit der Mütter und Väter und haben dadurch erhebliche Auswirkungen auf die Funktionsfähigkeit der Wirtschaft und der systemrelevanten Gesellschaftsbereiche. Die Politik hat deshalb die Gemeinschaftseinrichtungen ab Juni 2020 wieder schrittweise für den Regelbetrieb geöffnet und immer wieder betont, sie auch weiterhin, wenn irgend möglich offen halten zu wollen.
Der exponentielle Anstieg der Infektionszahlen im Herbst 2020 führte zu ersten Zeichen der Überlastung des öffentlichen Gesundheitswesens und der Krankenhäuser. Aktuell scheint es so zu sein, dass die verschärften Maßnahmen im Rahmen des Teil-Lockdown vom 2.11.2020 mit Ausweitung der Kontakteinschränkungen sowie durch Schließen ganzer Wirtschaftszweige noch nicht den erwarteten Erfolg zeitigen.
Immerhin wurden auch bei der letzten Videokonferenz der Bundesregierung mit den Ministerpräsidenten trotz des dynamischen Infektionsgeschehens die Schulen und Kindertagesstätten offen gehalten, wofür es große Zustimmung von Kindern, Jugendlichen, Familien und ihrer Unterstützer aus der Pädiatrie und der Hygiene gab, unter anderem von der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin (DAKJ) und der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene (DGKH).
Gemeinschaftseinrichtungen für Kinder und Jugendliche sind nicht entscheidend für die Ausbreitung der Pandemie
Die aktuellen Infektionszahlen an Schulen und Kindertagesstätten belegen, dass die Entscheidung zum Offenhalten der Gemeinschaftseinrichtungen fundiert und begründet war. Wie zu erwarten bleiben die Gemeinschaftseinrichtungen zwar nicht von Infektionen und auch einzelnen Häufungen verschont, aber es sind bisher nur wenige Ausbrüche aufgetreten, meist ausgehend von Lehrern und Betreuern. Bisher sind laut Kultusministerkonferenz und RKI nur 0,17 – 0,2% der Schüler mit SARS-CoV-2 infiziert worden. Bei über 32.000 Schulen in Deutschland waren Mitte November nur 106 Schulen geschlossen. Eine aktuelle Analyse des RKI zum Ausbruchsgeschehen in Deutschland attestierte den Schulen, dass sie nicht schwer betroffen sind. Trotzdem führen solche einzelnen Infektionen immer wieder zu Schließungen, Quarantäne ganzer Klassenverbände und entsprechend zu großer Verunsicherung. Allerdings ist zu beachten, dass die wenigsten Schüler in Quarantäne tatsächlich infiziert sind.
Durch einfache Hygienemaßnahmen gelingt es, Gemeinschaftseinrichtungen offen zu halten
In dieser durch die SARS-CoV-2-Pandemie ausgelösten Ausnahmesituation kommt es darauf an, die Gemeinschaftseinrichtungen durch konsequentes Einhalten der Hygieneregeln so lange wie möglich funktionstüchtig zu erhalten. Die Maßnahmen sind detailliert in den Empfehlungen von DAKJ und DGKH dargestellt (www.dakj.de/wp-content/uploads/2020/08/DAKJ-SN-Aufrechterhaltung-Regelbetrieb-Gemeinschaftseinrichtungen.pdf), sie müssen nun Eltern, Betreuern, Kindern und Jugendlichen verständlich kommuniziert werden. Infektionen können darüber hinaus noch effektiver verhindert werden, wenn die Jugendlichen, aber insbesondere auch die Lehrer und Betreuer, ihre privaten und außerschulischen Risiken einschränken und auch dort die AHA-L-Regeln konsequent einhalten.
Die AHA-Regeln (Abstand, Händehygiene, Alltagsmaske ab der 5. Klasse) und das regelmäßige Lüften (alle 20 min für 3 min Stoßlüften) können umso besser eingehalten werden, je älter die Kinder sind. Da Vorschulkinder und Grundschüler weniger ansteckend sind als Erwachsene und erst die Schüler der weiterführenden Schulen ab ca. 12 – 14 Jahre ähnlich infektiös wie Erwachsene gelten, kann die Umsetzung der Hygienevorgaben je nach Alter differenziert gehandhabt werden. Hierzu geben aktuelle Stellungnahmen der DAKJ und der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI) weitere Hilfestellungen 2.
Zentrale Rolle von Lehrern und Erziehern bei der Offenhaltung von Gemeinschaftseinrichtungen
Zur Umsetzung der empfohlenen Regeln in den Gemeinschaftseinrichtungen sind viel Engagement, Innovation und Improvisation bei allen Beteiligten notwendig. Mit gesundem Menschenverstand, Einsicht in hygienische Notwendigkeiten und der Bereitschaft, Neues zu wagen, können die Gemeinschaftseinrichtungen und ihre Leitungen die Situation bewältigen und daraus neues Selbstverständnis gewinnen. Dazu tragen v.a. auch die Lehrer*innen und Erzieher*innen durch ihren unermüdlichen Einsatz bei, indem sie den Sinn der erforderlichen Maßnahmen immer wieder deutlich machen und (auch zu ihrem eigenen Schutz) mit gutem Beispiel vorangehen. Gerade diese Mitarbeiter*innen der entsprechenden Einrichtungen wissen, dass Schule sehr viel mehr bedeutet als Bildung und wie wichtig der direkte Kontakt der Kinder mit den Lehrer*innen und auch untereinander ist. Hilfreich sind z.B. klar strukturierte Pläne von Wegen und Zeiten, die Begegnungen außerhalb der eigenen Gruppe reduzieren, um so eine doch aufgetretene Infektion möglichst eng einzugrenzen und nur wenige Betroffene in Quarantäne schicken zu müssen. Essentiell ist die gute Kommunikation der beschlossenen Regeln an alle Beteiligten. Es ist notwendig, dass sogenannte „Ausbrüche“ an Schulen und in Kindertagesstätten zumindest exemplarisch systematisch nachverfolgt und aufgearbeitet werden. Dazu gehört auch: das Lehrpersonal und die Kinder oder Jugendlichen nicht unkritisch in Quarantäne zu schicken, sondern sorgfältig zu recherchieren und zu unterscheiden zwischen geschützten und ungeschützten Kontakten. Wenn die Lehrer*innen im Kontakt mit einem positiven Schüler und umgekehrt die entsprechenden Schutzmaßnahmen beachtet haben, sind sie keine Kontaktpersonen 1. Grades und können nach wiederholt negativer PCR-Testung auf SARS-CoV-2 (z.B. an Tag 4 und 5 nach der Exposition) wieder in die Schule zurückkehren.
Eltern sollten darin bestärkt werden, dass es für ihre Kinder förderlich ist die Gemeinschaftseinrichtungen zu besuchen, dass Masken abhängig vom Lebensalter situativ notwendig und wirksam, bei korrekter Anwendung allenfalls belastend, aber nicht gefährlich sind. Betreuer und Lehrer sollten mit Freude ihre Aufgaben wahrnehmen können. Sie sollten verstehen, dass sie sich und ihr Umfeld, ebenso wie medizinisches Personal, mit einfachen Mitteln vor einer Infektion am Arbeitsplatz schützen können. Wer aus Angst vor Ansteckung zu Hause bleibt, sollte beraten werden, dass man sich auch bei möglichen Risikofaktoren für einen schweren Verlauf von COVID-19 durch individuelle Ausrüstung und organisatorische Maßnahmen der Einrichtung vor einer Ansteckung effektiv schützen kann. Meist liegt die Gefahr weniger im Klassenzimmer als im Lehrerzimmer oder im Sozialraum: auch dort sollten die AHA-L-Regeln konsequent eingehalten werden. Durch zeitliche Staffelung von Pausen und Raumnutzung sollte eine Überfüllung dieser Räume vermieden werden.
Gemeinschaftseinrichtungen helfen bei der Bekämpfung der Pandemie
Oft wird Platzmangel in Schulen als Hindernis für die Einhaltung der AHA-L-Regeln angegeben. Wenn im Sekundarschulbereich wegen Platzmangel nicht alle Schüler gleichzeitig unter Einhaltung der AHA-L-Regeln unterrichtet werden können, ist es dennoch wichtig, dass alle Schüler jeden Schultag in der Schule sind, damit der Tag strukturiert wird und kontinuierlich persönliche Kontakte gepflegt werden.
In der jetzigen Ausnahmesituation müssen alle Möglichkeiten der Prävention von Infektionen genutzt und die Bevölkerung zur Umsetzung motiviert werden, insbesondere damit die Gemeinschaftseinrichtungen offen und funktionsfähig gehalten werden können. Die Orientierung am besten Interesse der Kinder (siehe Kinderrechtskonvention) ist hierbei oberstes Gebot. Mit angemessenen Maßnahmen des Schutzes und der Hygiene können von außen in die Einrichtung hinein getragene Infektionen nicht gänzlich verhindert, aber eng begrenzt werden und stören dann nicht die Funktion der gesamten Institution. Mit solchen Maßnahmen können die Gemeinschaftseinrichtungen darüber hinaus zur Infektionsprävention in der gesamten Gesellschaft beitragen.
Kontaktbeschränkungen auf „einen Freund“ / „eine Freundin“ außerhalb der Kindertagesstätte oder Schule bei Kindern unter 10 Jahre sind eine belastende Maßnahme, die einen untergeordneten Einfluss auf das gesamte Infektionsgeschehen hat. Wichtiger ist vielmehr, dass Gruppen konstant gehalten werden und die Erwachsenen, die spielende Kinder begleiten oder beaufsichtigen, untereinander die AHA-L-Regeln sorgfältig beachten.
2 www.dakj.de/allgemein/wiederaufnahme-der-betreuung-von-kindern-im-vorschulalter/ ;
www.dgpi.de/covid19-masken-stand-10-11-2020/
Erstellt durch:
Prof. Dr. med. Hans-Iko Huppertz (Generalsekretär) Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin
Dr. med. Herbert Grundhewer, Prof. Dr. med. U. Heininger (Sprecher), Dr. med. A. Iseke, Prof. Dr. med. M. Knuf, Prof. Dr. med. G. Ch. Korenke, Prof. Dr. med. A. Müller, PD Dr. med. U. von Both (Kommission für Infektionskrankheiten und Impffragen der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin)
Prof. Dr. med. Johannes Hübner (erster Vorsitzender), Prof. Dr. med. Arne Simon (zweiter Vorsitzender) für die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie
Prof. Dr.med. Reinhard Berner (Vorstandsmitglied) für die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin
Dr. med. Peter Walger (Vorstandsmitglied) für die Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene
Prof. Dr. med. I. Krägeloh-Mann, Prof. Dr. med. J. Dötsch (Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin)
Dr. med. Th. Fischbach, Prof. Dr. med. W. Kölfen (Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte)
Prof. Dr. med. U. Thyen, Dr. med. A. Oberle (Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin)