Allmendingen – Die so genannte Entschuldigung von GRÜNENTHAL hat in der Öffentlichkeit hohe Wellen geschlagen. Durch dieses hohe mediale Interesse drangen andere Entwicklungen nicht mehr durch, die für die Contergangeschädigten in Deutschland eine deutliche höhere Bedeutung haben. Denn jetzt liegt der Politik der offizielle Zwischenbericht des 2008 vom Deutschen Bundestages initiierten Forschungsprojektes vor, mit dem die Versorgungsdefizite und individuellen Bedarfe der Betroffenen auf wissenschaftlicher Basis ermittelt werden. Der Titel: „Wiederholt durchzuführende Befragungen zu Problemen, speziellen Bedarfen und Versorgungsdefiziten von contergangeschädigten Menschen“.
Die Fakten, die bis jetzt durch das beauftragte Institut für Gerontologie an der Universität Heidelberg ermittelt wurden, bestätigen bereits die Probleme, auf die der Bundesverband Contergangeschädigter seit Jahren mit großer Dringlichkeit hinweist:
- Zu den ursprünglich bereits zum Teil schweren Conterganschädigungen stellen sich durch die jahrzehntelange Fehlbelastung von Wirbelsäule, Gelenken und Muskulatur heute zusätzlich Spät- und Folgeschäden ein, die einen altersuntypisch steigenden Bedarf z. B. an pflegerischen und therapeutischen Leistungen erfordern.
- Dem erhöhten Bedarf steht der zunehmende Ausfall der bisher wichtigsten Helfergruppen entgegen: der eigenen Eltern, Partner und erwachsenen Kinder.
- Gleichzeitig versiegen die Finanzquellen durch eine vorzeitige Erwerbsunfähigkeit mit entsprechenden Einbußen bei der Rente und durch den Wegfall der Zuschüsse, die an eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit gebunden sind.
Das Forschungsprojekt wurde auf breiter parlamentarischer Basis auf den Weg gebracht
Der Forschungsbericht weist nun nach, dass dieses Dilemma in den letzten fünf Jahren eine besondere Dynamik angenommen hat: „Frühverrentungen sind zu 95% durch die Conterganschädigung und deren Folgen bedingt.“ Die Folge: Ob Therapie, Assistenz, Pflege oder Mobilität – überall herrscht eine ausgeprägte Unterversorgung der Betroffenen, weil ihnen das Geld fehlt. Kurz: die Zeit läuft. Das Forschungsprojekt, das mit breiter Unterstützung der Bundestagsfraktionen von CDU, CSU, FDP und SPD auf den Weg gebracht wurde, hat damit seinen Zweck erreicht. Die validen Daten, die das Parlament für eine fundierte Entscheidung für erforderlich hielt und daher angefordert hat, liegen nun vor. Und das Positive daran: Viele der Politiker, die den Entschließungsantrag unterstützt haben, sind heute noch aktiv im Bundestag, in den Ministerien sowie in der Conterganstiftung. „Es ist gerade diese personelle Kontinuität“, so Margit Hudelmaier, Vorsitzende des Bundesverbandes Contergangeschädigter e. V., „die uns große Hoffnung auf einen Durchbruch zu einer wirklichen Hilfe für die Betroffenen macht. Denn die politischen Entscheider haben viel Zeit in dieses Thema investiert. Und ich könnte mir vorstellen, dass sie nun auch noch selbst entscheiden wollen, bevor die Legislaturperiode endet.“
Gute Gründe für eine beherzte Entscheidung durch die Politik
Neben den nun vorliegenden Ergebnissen erfordert auch die internationale Gerechtigkeit beherzte Entscheidungen seitens der Politik:
- Eine von der Conterganstiftung in Auftrag gegebene Studie der renommierten Rechtsanwaltskanzlei DLA Piper belegt eines deutlich: Thalidomid-Opfer in anderen Ländern werden besser unterstützt als in Deutschland. So weisen die Zahlen aus, dass ein Schwerstgeschädigter in Großbritannien im Durchschnitt der letzten 10 Jahre einen Betrag von 62.318,85 € pro Jahr erhielt, ein Geschädigter in Deutschland jedoch lediglich 6.293,74 € – mithin also nur 10%!
- Im Juli dieses Jahres ist in Australien ein Durchbruch in dem gerichtlichen Verfahren gegen den dortigen Contergan-Vertreiber gelungen: Sämtliche an der Sammelklage beteiligten Thalidomid-Opfer erhalten im Rahmen eines Vergleichs Summen zugesprochen, die ihnen ein Leben ohne demütigende Antragstellungen und Rechtfertigungen sicherstellen. Das Ergebnis des Vergleichs wird auch auf die Geschädigten in Neuseeland ausgeweitet.
Das Bundesverfassungsgericht hat bereits im Jahre 1976 den Staat ausdrücklich dazu aufgefordert, Hilfen und Mittel zur Verfügung zu stellen, die den Bedarfen der Betroffenen gerecht werden. Nach der allgemeinen rechtlichen Verpflichtung zur Bedarfsdeckung stehen durch die Forschungsergebnisse nunmehr auch die konkreten Bedarfe fest. Es besteht damit kein Grund mehr, den derzeitigen Zustand der wissenschaftlich belegten permanenten Unterversorgung beizubehalten.