Bielefeld – Spätestens seit dem Hans Beimer aus dem TV-Serienklassiker „Lindenstraße“ vom Arzt seines Vertrauens Cannabis gegen Parkinson verschrieben bekam, war die Heilpflanze in Deutschlands Wohnzimmern angekommen. Das war 2016. Mittlerweile ist die Verschreibung seit einem Jahr legal. Seitdem haben laut Angaben der Krankenkassen 13.000 Patienten Anträge auf Kostenübernahme gestellt. Vor der Gesetzesänderung hatten nur 1000 Menschen eine Ausnahmegenehmigung. Eine Herausforderung für die Medizin und das Gesundheitssystem, wie sich jüngst beim 9. Bielefelder Schmerztag im Evangelischen Klinikum Bethel (EvKB) zeigte.
„Wir dürfen uns nicht vorstellen, dass ein Patient dasitzt und lässig einen Joint raucht. Wir geben den Wirkstoff in Kapseln oder Tropfen ab. Nur so können wir die Wirkung kontrollieren. Wir haben mit Cannabinoiden, also den medizinischen Substanzen aus Hanf – ein Schmerzmittel, das individuell wirkt und bisher weniger Nebenwirkungen zeigt als andere,“ erklärt Professor Thomas Herdegen vom Institut für experimentelle und klinische Pharmakologie in Kiel.
Seit knapp einem Jahr ist es Ärzten – bis auf Zahn- und Tierärzten – erlaubt, auf einem Betäubungsmittelrezept Cannabinoide legal zu verschreiben. Bis vor dieser Gesetzesänderung musste der Patient bei der Bundesopiumstelle eine Ausnahmeerlaubnis beantragen – eine hohe bürokratische Hürde, denn seitdem diese gefallen ist, sind bei den großen Krankenkassen rund 13.000 Anträge auf Kostenerstattung für verschriebenen Cannabis-Medikamente eingegangen. Rund zwei Drittel der Anträge werden von den Kassen bezahlt.
Die Legalisierung bedeutet allerdings nicht, dass Patienten einfach zum Arzt gehen können, um sich Cannabis verschreiben zu lassen. Die Vorgaben sind streng, damit die Kasse zahlt. Erstens muss der Patient schwer erkrankt sein, zweitens darf es keine Alternative geben, drittens muss eine ärztliche Verschreibung vorliegen, und viertens darf der Wirkstoff nur in kontrollierter Qualität abgegeben werden.
Im EvKB arbeiten die Schmerztherapeuten seit Jahren mit medizinischem Cannabis. „Die Gesetzesänderung hat bei uns keinen zusätzlichen Run ausgelöst. Derzeit erhalten einzelne Patienten Dronabinol (Wirktstoff aus der Gruppe der Cannabinoide)“, berichtet Dr. Hans-Jürgen Flender, Anästhesist, Intensivmediziner und Spezialist in der Schmerzambulanz des EvKB.
Es gibt etliche Erkrankungen, bei denen Cannabis wirksam sein kann. Bei Spastiken von Multiple Sklerose-Patienten ist ein Cannabis-Mundspray zugelassen. In der Schmerztherapie ist der Wirkstoff THC aus der Cannabispflanze ein Lichtblick. Um die Wirkung weiter zu belegen hat die Bundesregierung aktuell die Studie „Cannabis“ in Auftrag gegeben, für die 2100 wissenschaftliche Publikationen ausgewertet werden.
„Sinnvoll ist es eine individuelle Nutzen-Analyse für den Patienten zu machen. Aus unserer Erfahrung verschreiben wir Cannabinoide zusätzlich zu einer Schmerztherapie und nicht ausschließlich“, erklärt Professor Frank Petzke, Geschäftsfeldleiter Schmerzmedizin an der Universitätsmedizin Göttingen, der dringend vor Selbsttherapien warnt, bei denen die Qualität der Substanzen, Menge und Intensität des Wirkstoffs unbekannt sind.
„Cannabis als Medikament muss in die richtige Schublade gelegt werden. Dafür brauchen wir kontrollierte Bedingungen, die den Umgang mit cannabis-basierten Medikamenten normaler und damit sicherer macht“, fordert Dr. Martin Reker von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie im EvKB, der mögliche Abhängigkeiten durch Cannabisprodukte relativierte. „Risikomanagement und Verantwortung für den Patienten gehören zu einer kontrollierten Therapie. Und zwar nicht nur bei Cannabinoiden.“