Wiesbaden – Dr. med. Jens Kröger ist Facharzt für Innere Medizin, Diabetologe DDG sowie Vorstandsmitglied von diabetes DE – Deutsche Diabetes-Hilfe und leitet eines der größten Diabetes-Zentren in Deutschland. Wie Menschen mit Diabetes dort für den Alltag fit gemacht werden und was wichtig ist, um diese optimal behandeln zu können, erklärt der Diabetologe im Experten-Interview.
Rund 300.000 Typ-1-Diabetiker und mehr als 1,5 Millionen Typ-2-Diabetiker in Deutschland müssen mehrmals täglich ihren Blutzucker messen und die entsprechende Menge Insulin spritzen. Wie machen Sie Ihre Patienten fit für den Alltag?
Was wir ihnen an die Hand geben können, ist zunächst einmal eine strukturierte Diabetesschulung. Hier werden wesentliche Inhalte einer modernen Diabetestherapie vermittelt, z.B. wie messe ich richtig Blutzucker und warum sollte ich es regelmäßig tun? Wie kann ich meine individuellen Kohlenhydrateinheiten berechnen und die entsprechende Menge Insulin ableiten? Das Problem ist: Nicht jeder hat immer Zeit, in Ruhe zu essen und vorher seinen Blutzucker zu messen und dann zu spritzen. Vieles geschieht in Hektik, zum Beispiel auf der Arbeit. Da können schnell mal Fehler passieren. Bei der Blutzuckermessung kann das Problem entstehen, dass die Finger nicht sauber sind. Wenn etwa etwas Süßes an den Fingern haftet, wird das Messergebnis verfälscht.
Wie oft müssen insulinpflichtige Menschen mit Diabetes pro Tag den Blutzucker messen?
Bei einer intensivierten Insulintherapie* ist vier Mal täglich messen das Minimum, um den Diabetes gut steuern zu können. In der Regel isst man drei Mahlzeiten pro Tag – morgens, mittags, abends – vor denen der Blutzucker kontrolliert werden sollte. Zusätzlich sollte man vor dem Schlafengehen messen. Aber auch sechs bis acht Mal messen ist möglich. Zusätzliche Situationen, die Messungen erforderlich machen, können zum Beispiel Sporteinheiten sein oder ein Stück Kuchen am Nachmittag. Sprich: alle Dinge, die den Blutzucker beeinflussen. Wichtig ist jedoch: Blutzuckermessung muss immer vor dem Hintergrund einer guten Lebensqualität gesehen werden. Alle Therapien und Methoden sollen unterm Strich die Lebensqualität verbessern.
Das erfordert viel Disziplin. Was fällt den Betroffenen im Alltag am schwersten?
Die Theorie dessen, wann ich meinen Blutzucker messen soll, und die Integration in meinen Alltag, sind zwei unterschiedliche Dinge. Ein Schüler mit Typ-1-Diabetes etwa, hat vielleicht Probleme damit, im Unterricht zu messen oder kann nicht immer ohne weiteres Nahrung zu sich nehmen. Das gleiche gilt für den Arbeitsalltag. Nicht alle erzählen den Kollegen von ihrer Erkrankung und Vielen ist es unangenehm, in der Öffentlichkeit zu messen. Es kommen immer wieder Situationen vor, in denen die Betroffenen wissen, dass sie messen müssten, aber dies nicht tun können oder wollen. Das ist eine enorme Belastung. Hierzu ist es wichtig zu wissen, dass der Blutzucker nicht immer gleich reagiert. An einem Tag esse ich zwei Brötchen und der Blutzucker steigt um ein gewisses Maß, an einem anderen Tag haben die gleichen Brötchen eine ganz andere Auswirkung auf den Blutzucker. Zwischendrin habe ich dann vielleicht Stress oder rege mich auf. So ist das Leben. Deswegen sollte man nie nach Gefühl spritzen, sondern immer zuerst den Blutzucker messen.
Was ist für Sie als Diabetologe wichtig, um Ihre Patienten optimal zu begleiten?
Eine ehrliche Dokumentation, was die Patienten machen, was sie beschäftigt: Ein Tagebuch, in dem alle Messwerte, aufgenommene Kohlenhydrateinheiten, Insulindosen und Besonderheiten wie Stress oder Sport notiert werden. Auch das fällt vielen nicht leicht. Aber nur auf dieser Basis kann ich mein Behandlungsziel erreichen: eine optimale Lebensqualität im Rahmen der therapeutischen Möglichkeiten.
Das heißt: Je mehr Informationen, desto besser die Therapiemöglichkeiten. Wenn Sie 24-Stunden-Daten Ihrer Patienten hätten, was würde das für Sie ändern?
Das wäre optimal: Wenn ich über den ganzen Tag sehen könnte, wie der Blutzucker gelaufen ist – auch nachts. Ich habe deutlich mehr Information, wenn ich kontinuierliche Blutzuckerverläufe sehe. Denn normal messen Patienten vier bis fünf Mal am Tag, das sind Momentaufnahmen. Bei einer kontinuierlichen Blutzuckermessung kann ich Phasen sehen, die üblicherweise nicht abgebildet werden: Die Verläufe, Schwankungen und Unterzuckerungen. Blutzuckerschwankungen sagen z.B. viel über die Nahrung aus, die aufgenommen wurde. Denn da gibt es große Unterschiede. Ein einfaches Beispiel: Weißbrot geht schnell ins Blut, Schwarzbrot langsam. Welche Brotsorte gegessen wurde, kann ich bei einer kontinuierlichen Blutzuckermessung am Verlauf der Kurve ablesen. Zudem bin ich immer wieder erstaunt, wie viele Menschen Unterzuckerungen haben. Manche merken das nach vielen Jahren mit Diabetes gar nicht mehr. Oft schlafen sie einfach darüber hinweg, das kann im schlimmsten Fall eine lebensbedrohliche Situation sein.
* mehrmals tägliche Gabe von Insulin, unterteilt in Basalinsulin als Basis und Mahlzeiteninsulin