Berlin – Bereits vor neun Jahren wurden die deutschen Pharmaunternehmen verpflichtet, die Informationen aus den sogenannten Beipackzetteln auch blindengerecht zur Verfügung zu stellen. In der Diskussion um die geeignete Umsetzung ist es nun zum offenen Streit mit dem Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) gekommen. Grund ist, dass die Unternehmen die wichtigen Gebrauchsinformationen ausschließlich telefonisch anbieten möchten.
Blinde und sehbehinderte Patienten sollen zukünftig ein Callcenter anrufen, das dann zum Hersteller des jeweiligen Medikaments durchstellt. Darauf haben sich der Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller, Pro Generika, der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie und der Verband Forschender Arzneimittelhersteller verständigt.
Für Renate Reymann kann dieser Service eine Ergänzung, aber auf keinen Fall das einzige Angebot sein. „Das sind doch komplexe Informationen, wer kann sich die schon nach einmaligem Anhören merken?“, fragt die DBSV-Präsidentin. Ein weiteres Problem: Nebenwirkungen halten sich nicht an die Öffnungszeiten einer Unternehmens-Hotline, sie können rund um die Uhr auftreten. Und schließlich möchte man sich über manche Medikamente, Beispiel Viagra oder die Pille danach, auch nicht unbedingt mit einem wildfremden Menschen unterhalten.
All das kann dazu führen, dass Betroffene zu spät oder unvollständig über Risiken und Nebenwirkungen informiert werden. Dabei gibt es seit fast vier Jahren einen Service, mit dessen Hilfe die Pharmaunternehmen ihre Gebrauchsinformationen barrierefrei zur Verfügung stellen können. Am 18. Juni 2010 präsentierten der DBSV und die Rote Liste unter www.patienteninfo-service.de eine gemeinsame Internet-Plattform. Hier werden Arzneimittelinformationen in vier Formaten zur Verfügung gestellt, unter anderem im Großdruck oder als Hörbuch.
Zu den Unternehmen, die den Service nutzen, gehören beispielsweise AstraZeneca, Dr. Falk Pharma, Janssen-Cilag, MSD, Novartis, Pfizer und Roche, die jeweils einen hohen Prozentsatz ihrer Gebrauchsinformationen barrierefrei eingestellt haben. Sie kommen damit ihrer gesetzlichen Pflicht nach, schließlich sind sie seit neun Jahren dazu verpflichtet, dass “die Packungsbeilage auf Ersuchen von Patientenorganisationen bei Arzneimitteln, die zur Anwendung bei Menschen bestimmt sind, in Formaten verfügbar ist, die für blinde und sehbehinderte Personen geeignet sind” (§11 AMG Abs. 3c).
Insgesamt beteiligt sich aber nur ein Bruchteil der Hersteller, nämlich gerade mal 21 von 350 in Deutschland ansässigen Unternehmen. Für alle anderen Pharmaunternehmen gilt: Von Risiken und Nebenwirkungen erfahren Blinde nur telefonisch.
Der DBSV drängt seit dem Jahr 2005 darauf, dass Beipackzettel in den Formaten zur Verfügung gestellt werden, die blinde und sehbehinderte Menschen benötigen. Termin dafür war laut Arzneimittelgesetz bereits der 1. Januar 2009. Der Verband nimmt deshalb nun die obersten Landesbehörden in die Pflicht und fordert, dass im Rahmen der standardmäßigen Audits auch die Verfügbarkeit von Gebrauchsinformationen gemäß AMG geprüft wird.