Berlin – Der VI. Senat des Bundesgerichtshofs (BGH) hat am 29.01.2019 in Karlsruhe in zwei Fällen von nicht ordnungsgemäß aufgeklärten Nierenlebendspendern (Aktenzeichen VI ZR 495/16 und VI ZR 318/17) Urteile gesprochen, die man als juristische Sensation bezeichnen darf. Siehe auch unsere Pressemeldungen vom 09.04.2018 und 15.08.2018 und die persönliche Erklärung des 1. Vorsitzenden der Interessengemeinschaft Nierenlebendspende e. V. (IGN e. V.) vom 23.01.2019.
Der BGH hat in seiner Grundsatzentscheidung die Anwendung der „hypothetischen Einwilligung“ im Zusammenhang mit Organlebendspenden verneint. Somit kann künftig kein fehlerhaft aufklärender Arzt nach der Spende darauf bestehen, dass der Spender bei richtiger Aufklärung ohnehin gespendet hätte.
Die Vorinstanzen hielten den Klägern vor, unter anderem aus Liebe zu dem Organempfänger gespendet zu haben. Sie hätten daher in jedem Fall ihre Niere gespendet. Aber genau diese emotionale Nähe verlangt der Gesetzgeber zwischen Organspender und -empfänger. Der BGH hat die besondere Konfliktsituation des potenziellen Spenders erkannt und führt aus, dass die strengen Vorschriften auch dem „Schutz des Spenders vor sich selbst“ dienen. Das oberste deutsche Zivilgericht stellt also klar, dass man einem beschädigten Spender nicht die Vorgaben des Gesetzgebers zusätzlich noch als „hypothetische Einwilligung“ vorhalten kann.
Im Falle einer nicht lückenlosen Aufklärung, würden die strengen Vorgaben des Transplantationsgesetz unterlaufen werden. Dies aber erschüttere das Vertrauen potenzieller Lebendorganspender in die Transplantationsmedizin.
Das Urteil ist bei der Pressestelle des BGH unter www.bundesgerichtshof.de als Pressemeldung Nr. 10/2019 einsehbar.
Die Kläger und die Mitglieder der Interessengemeinschaft Nierenlebendspende e. V. (IGN e. V.) haben dieses Urteil mit großer Freude und Erleichterung aufgenommen. Es ist der jahrelangen konsequenten öffentlichen Darstellung der tatsächlichen Risiken durch die IGN e. V. und dem öffentlichen Nachweis, dass die Transplantationsmedizin diese trotz Kenntnis verschwiegenen hat, zu verdanken, dass dieses Urteil möglich wurde. Mit diesem Urteil sollte sich die Aufklärungskultur der Transplantationsmedizin in Deutschland nachhaltig verändern.
Dass dies bisher tatsächlich nicht zum ärztlichen Selbstverständnis gehörte, hatte noch am Tag vor der Urteilsverkündung Herr Prof. Bernhard Banas (Universitätsklinikum Regensburg) in seiner Funktion als Präsident der Deutschen Transplantationsgesellschaft (DTG) gegenüber der Westfälischen Rundschau eindrucksvoll bestätigt:
Zitat: Wenn die beiden Recht bekommen, „und wir in den Aufklärungsgesprächen alle eventuellen Risiken abklären müssen, werden Lebendspenden künftig schwieriger bis unmöglich gemacht“, befürchtet DTG-Präsident Banas.”
Herr Prof. Banas ist also der Auffassung, dass man Nierenlebendspendern nicht alle Risiken erklären soll. Diese Aussage offenbart eine inakzeptable ethische Grundhaltung. Ob Herr Banas weiß, was er da gesagt hat?
Tatsächlich waren bisher nicht alle Transplantationsmediziner ernsthaft um die Gesundheit der Organlebendspender bemüht. Das bestätigen die Mitglieder der IGN e. V. auf Grund unzählige persönliche Erfahrungen. Allein der Umstand, dass bei jeder einseitigen Nierenentnahme, die Gesamtnierenfunktion um ca. 30 bis 40 % sinkt, wurde bisher beharrlich verschwiegen oder heruntergespielt. Die hieraus folgenden Symptome wie z. B. Leistungsverluste, kognitive Einschränkungen und chronische Müdigkeit wurden mit unangreifbarer ärztlicher Expertise als psychische Folgen der Spendebelastung diagnostiziert. Ohne Hemmungen auch von medizinisch geschulten Gutachtern vor Gericht in Zivil- und Sozialgerichtsprozessen.
Auch das in Studien beschriebene häufig auftretende „Fatigue-Syndrom“ nach Nierenlebendspende, eine sehr schwere neurologisch-immunologische Erkrankung des gesamten Körpers, muss Gegenstand der Aufklärung sein.
Die Transplantationsmedizin rechnete bisher im Bereich der Lebendorganspende die Gesundheit zwischen Spender und Empfänger auf. Aber die Gesundheit des Spenders ist unverhandelbar.
Im Mittelpunkt stehen künftig die gesunden potenziellen Spender, die erst nach vollständiger Kenntnis über die teilweise gravierenden möglichen Einschränkungen und Konsequenzen des Nierenverlustes eine möglichst freie Entscheidung treffen werden. Jeder hat das Recht auf körperliche Unversehrtheit und kann „Nein“ zur Spende sagen. Das ist ein großer Wertegewinn für die teilweise einseitige Debattenkultur rund um die Organspende.
Man liest bis dato keine Stellungnahmen aus den Fachkreisen zum Urteil. Lediglich das beim BGH unterlegenen Universitätsklinikum Essen veröffentlichte am selben Tag nach der Urteilsverkündung eine Stellungnahme.
Zusammenfassung der Stellungnahme des Universitätsklinikums Essen:
Die betroffenen Fälle lägen fast 10 Jahre zurück. Zwischenzeitlich hätte sich die Aufklärungspraxis der Risiken der Lebendspende für die Organspender aufgrund neuerer medizinischer Erkenntnisse insgesamt verändert. Letztlich handele es sich bei der Entscheidung des Bundesgerichtshofes trotz der grundsätzlichen rechtlichen Bedeutung, um eine abgeschlossene Einzelfallbetrachtung.
Dazu nimmt die IGN e. V. wie folgt Stellung:
Die Aufklärungspraxis hat sich an vielen Kliniken tatsächlich verändert. Nach Auffassung der IGN e. V. aber immer noch nicht ausreichend. Und auch nur, weil die IGN e. V. die ungenügende Aufklärungspraxis seit 2011 öffentlich thematisiert hat. Dafür wurde sie oft angefeindet. Studien, die auf Risiken nach Nierenlebendspende hingewiesen haben, wurden schon vor über 20 Jahren veröffentlicht. Tatsächlich handelt es sich im medizinischen Sinne nicht um „Einzelfälle“, wie die durch die IGN e. V. veröffentlichten Studien und persönlichen Erfahrungen zeigen. Bundesweit sind zahlreiche weitere Fälle vorinstanzlich gerichtlich über Vergleichsregelungen am Blick der Öffentlichkeit vorbei abgeschlossen wurden.
Nierenlebendspender, die in der Vergangenheit unvollständig aufgeklärt wurden, haben nun im Rahmen der gesetzlichen Verjährungsfristen vor Gericht gute Chancen für die rechtswidrige Nierenentnahme einen finanziellen Ausgleich zu erstreiten, auch wenn dies in vielen Fällen kaum die erlittenen Schmerzen und Schäden aufwiegen wird.
„Eine Lebendspende kann mit hohen Risiken verbunden sein. (…) Eine umfassende Aufklärung ist daher umso wichtiger. Die Interessengemeinschaft Nierenlebendspende e. V. leistet dazu einen wichtigen Beitrag.“ Hermann Gröhe (Bundesgesundheitsminister 2013 bis 2018)