Nicht wenige Politik- und Medienvertreter nehmen derzeit Stellung zum 75jährigen Jubiläum unseres Grundgesetzes und heben ziemlich einstimmig dessen Einmaligkeit und Vorzüge hervor. Gleichzeitig wird vor Tendenzen gewarnt, die Inhalte des Grundgesetzes auszuhöhlen oder gar rückwärtsgewandt abzuwickeln. In weiser Voraussicht, da noch von den Trümmern der einstigen Diktatur umgeben und deren Gräueltaten noch frisch im Gedächtnis, haben die wenigen Mütter und die mehrheitlichen Väter Sperrklauseln in ihren Grundgesetzestext eingefügt, die ein zweites Weimarer Verfassungsdebakel verhindern sollen. Es sei denn, es finden sich doch noch eines Tages die festgeschriebenen Mehrheitsverhältnisse, um die erste und seit einem Dreivierteljahrhundert kontinuierlich bestehende Demokratie auf deutschem Staatsgebiet abzuschaffen.
Politischen Eruptionen geht meist ein gesellschaftlicher Stillstand in Form von politischem Desinteresse voraus, das dann in kompromisslose Ablehnung um- und um sich schlägt. So geschehen mit Teilen der über viele Jahre bestehenden und nicht beachteten Nichtwählerschaft und zuletzt im Verlauf der Coronapandemie. Das muss nicht einmal auf großer Bühne geschehen, sondern in kleinen subtilen Teilschritten, die wiederum sich in ihrer Wirksamkeit summieren und potenzieren können. Die vorläufige Eskalationsendstufe gipfelt in Gewalt im öffentlichen Raum sowie in Kliniken und Praxen gegen Angehörige von Gesundheitsberufen. Wo bleibt hier noch der freiheitlich – demokratische Grundkonsens und der Bezug zum Grundgesetz? Wer in politischer Verantwortung stehend die Ärzteschaft wiederholt zur besten Sendezeit oder auflagenstark als überprivilegierte und vorwiegend Golf spielende Großverdiener denunziert, ersetzt den demokratischen Diskurs gezielt durch Demagogie und verletzt die Würde der davon betroffenen Kampagnenopfer.
Damit komme ich auf zwei demokratische Grundpfeiler unseres Staates und Gemeinwesens zu sprechen: Bildung und Gesundheit. Denn beide tragen maßgeblich dazu bei, zwei der wohl wichtigsten Kernelemente des Grundgesetzes erst zu ermöglichen, nämlich die o.g. Würde und die Unversehrtheit jedes einzelnen Individuums. Ihre jeweilige Unantastbarkeit setzt aber ethische Maßstäbe wie Toleranz, die nötige Einsicht und Vernunft sowie das Wissen um gesellschaftliche Zusammenhänge und Werte voraus. Solange wir, wie einst F. Müntefering schon vor 20 Jahren forderte, in die Köpfe und Herzen von jungen Menschen investieren, indem auf einen möglichst barrierefreien Zugang zu Bildung geachtet wird, werden Rechtsstaats- und Demokratieprinzipien Generationen übergreifend von einer breiten Mehrheit ge- und weitergetragen und im Alltag gelebt. Geschieht dies nicht mehr, wie am Beispiel medizinischer Versorgungsdefizite von Kindern oder angesichts einer 20prozentigen Kinderarmut nachgewiesen, werden weitere gesamtgesellschaftliche Negativfolgen nicht allzu lange auf sich warten lassen.
Gerne wird medial und politisch der sogenannte gesunde Menschenverstand als universales, allzwecktaugliches Argument überstrapaziert wie der nicht weniger floskelartige Terminus politicus vom kleinen Mann. Sich auf beides zu berufen, scheint nur vordergründig ein sicherer parteipolitischer Qualitätsindikator geworden zu sein. In Wahrheit endet mit dem Erreichen politischer Mehrheiten aber auch meistens die eigentliche Daseinsfürsorgepflicht. Seltene und chronisch Erkrankungen werden zu Minderheiten und Kostenfaktoren. Weder wird in die physische noch in die psychische oder soziale Gesundheit gezielt, d.h. bedarfsgerecht, ausreichend und nachhaltig investiert. Es werden starre, überholte, vorwiegend stationäre Strukturen kostenintensiv finanziert, aber nicht die bedarfs- und altersgerechte ambulante Versorgung und ebenso wenig präventive therapeutische und rehabilitativeProzesse. Damit nimmt der Anteil von medizinisch nicht mehr ausreichend versorgten Menschen kontinuierlich zu, weil die Schere aus Angebot und Nachfrage immer weiter aufgeht. Nach keiner der letzten Legislaturen war bisher das Gesundheitssystem am Ende besser geworden trotz stimmiger Wahlprogramme. Die aktuelle gesundheitspolitische Entwicklung mit ihren ungelösten Bund-Länder-Konflikten setzt diese Tradition in verschärfter Form fort und verlagert auch wieder nur den Reformstau in die Zeit nach den Wahlen 2025.
Ungebremst investiert der deutsche Sozialstaat weiter kräftig in den kontinuierlichen Ausbau von Zivilisationskrankheiten, die der Unversehrtheit menschlichen Lebens nicht zuträglich sind. Damit nimmt die Zahl erkrankter Menschen immer mehr und unnötig zu. Und als Folge des indifferenten und ineffizienten Ressourcenverbrauchs werden durch Verknappung und Rationierungseffekte sozioökonomisch neue medizinisch vulnerable Gesellschaftsgruppen geschaffen, besonders im Kindes- und betagten Lebensalter. Beide gesundheits- und gesellschaftspolitisch vernachlässigten Randgruppen leiden besonders unter Versorgungsdefiziten, die konträr zu den Werten unseres Grundgesetzes stehen. Kinder haben im Extremfall die Folgen gesundheitspolitischer Versäumnisse irreversibel ein Leben lang zu tragen; und ältere Menschen erfahren mit zunehmendem Verlust ihrer Selbstständigkeit im letzten Abschnitt ihres Lebenszyklus oft eine ihre individuelle Würde verletzende Geringschätzung, nicht nur in der bürokratischen Wahrnehmung ihrer Pflegebedürftigkeit. Babyboomer und Pflegekostenexplosion sind verbalisierter Bauschaum, der nur dazu dient, die eigenen ordnungspolitischen Hohlräume medienwirksam zu füllen und von den Defiziten, Inkompetenzen und Fehlentscheidungen verantwortlicher Mandatsträger in Politik und Selbstverwaltung abzulenken. Wer in Sozialsysteme einzahlt hat Anspruch auf die spätere Einhaltung sozialer Standards. Die Rente per se mag auszahlungstechnisch sicher sein, aber von ihrer Höhe und den Grundbedürfnissen für ein menschenwürdiges Lebens war nie die konkrete Rede. Die nachgeschobene Besteuerung von privaten Vorsorgen aus fiskalpolitischen Gründen ist ein weiterer eklatanter Vertrauensbruch. Gleichzeitig müssen gesetzliche Krankenkassen jährlich in Höhe eines zweistelligen Milliardenbetrages staatliche Leistungen übernehmen, die außerhalb der Solidargemeinschaft der Beitragszahler liegen und dringend für die Aufrechterhaltung eines funktionierenden Gesundheitssystems benötige Ressourcen zweckentfremden. Das im SGB verankerte und für PatientInnen und Gesundheitsberufe geltende Wirtschaftlichkeitsgebot wird einfach außer Kraft gesetzt, wenn es gilt, Finanzlöcher im Staatshaushalt kurzfristig zu füllen; auch um den hohen Aufpreis aus Praxissterben und Klinikpleiten. Für die eigentlichen Wurzelbehandlung des Übels fühlt sich niemand zuständig.
Wer gleichzeitig Existenzängste schürt und die Lebensleistung bzw. -erwartung als gesellschaftliche Risiken diskriminiert, der stellt auch die Langlebigkeit unseres mit 75 Jahren im historischen Kontext noch sehr jugendlichen Grundgesetzes nicht weniger in Frage oder gar in Abrede. Wer aus einem medizinisch indizierten ambulanten Behandlungsfall aus puren ökonomischen Gründen einen unnötig stationären konstruieren lässt, missachtet die Würde der davon betroffenen Patientinnen und Patienten. Wer sie damit zusätzlichen Risiken wie nosokomiale Infektionen oder Never Events aussetzt, der spielt bewusst mit dem im Grundgesetzt verankerten Schutz der Unversehrtheit. Deshalb sind Patientenschutz und Patientensicherheit nicht nur nationales, sondern international unverhandelbares Menschenrecht. Investoreninteressen, Prestigegewinne kommunal-, landes- oder bundespolitischer Würdenträger sind in diesem Wertekanon bestenfalls zweitrangig. Ein Sozialstaat darf sich nur als solchen bezeichnen, wenn er sich auch als solcher zu erkennen gibt und nicht nur als Epitheton ornans in einigen Parteiennamen dient. Und wenn er sich auch gegenüber seinen nachweislichen Leistungs- und Kompetenzträgern respektvoll erweist. Dazu zählen u.a. alle Schichtarbeiter in Deutschland, die gesundheitsschädigende Nachtarbeit auf sich nehmen, um z.B. kritische Infrastrukturen wie das Gesundheitswesen im 24/7 – Modus am Laufen zu halten. Keine Selbstverständlichkeit, aber zunehmend als solche wahrgenommen, als jederzeit abrufbar eingefordert und in Kombination mit sinkender Frustrationstoleranz mit verbaler und zunehmender körperlicher Gewalt vergolten. Coronahilfen wurden bei weitem mehr verspochen als später ausgezahlt und dies in willkürlich festgelegten bürokratischen Bemessungsgrenzen. Hier wird neben Vertretern von Gesundheitsberufen das Grundgesetz und unser auf dessen Prinzipien beruhendes freiheitlich-demokratisches Gesundheitssystem nicht mehr nur sprichwörtlich mit Fäusten und Füßen malträtiert.
Ein freiheitlich – demokratisches Gesundheitssystem ist auch Ausdruck eines bestmöglich praktizierten Demokratieverständnisses aller Beteiligten, unabhängig von Patientennähe bzw. -ferne. Mit letzterer nimmt leider gemäß des Abstandsquadratgesetzes der gebotene Respekt gegenüber medizinischen Fachberufen ab. Mit einer der Gründe des beklagten Fachkräftemangels. Aber auch innerhalb der Ärzteschaft schwindet der Solidaritätsgedanke, zu verlockend erscheinen immer wieder in wechselnden Konstellationen minimale Zugeständnisse der Politik und Kostenträger an einige pseudoprivilegierte Fachgruppen. Ein bereits aus der Antike bewährtes Instrument, aber eben antiquiert und an der Schnittstelle analoges zum modernen digitalen Zeitalter nicht mehr vermittelbar. Es wäre hierbei äußerst hilfreich, wenn ärztliche Standesvertreter und Funktionäre sich weiterhin als Angehörige eines freien Berufes verstehen und entsprechend sorgfältig und bedacht handeln, statt sich als Schleppenträger der alle vier Jahre wechselnden Kollektion an „Neuen Kleidern“ im Gesundheitsministerien anzudienen.
Quereinsteigern ins Gesundheitswesen aus fachfremden Berufen nur zur eigenen, möglichst stressfreien und hochlukrativen Existenzabsicherung sei ein Blick ins Grundgesetz empfohlen, das für Pfründe dieser Art keinen Platz vorsieht. Ebenso wenig für die zur absolutistischen Gewohnheit gewordene Bevormundung von Pflegenden und Ärzteschaft. So gesehen ist der 75. Geburtstag des Grundgesetzes eine längst überfällige Gelegenheit, auf die erwähnten Schieflagen in unserem Gesundheitswesen und deren demokratieverstörenden Ursachen hinzuweisen und deren umgehendes Ende einzufordern. Unser Gesundheitswesen ist nur in dem Maße demokratisch und freiheitlich, wie sich auch Ärztinnen und Ärzte mehrheitlich über ihre Fachlichkeit hinaus gesundheits- und gesellschaftspolitisch interessieren und entsprechend engagieren, ohne gleich die eigene Courage an der erstbesten Selbstverwaltungsgarderobe abzugeben oder den Beruf gleich an den Nagel zu hängen.
Dr. Christian Deindl
Präsident des BAO e.V.