Angesichts eines mehrmonatigen Lieferengpasses fordern Fachorganisationen Veränderungen bei Produktion und Monitoring.
Die Bundesregierung muss Versorgungsmängeln bei HIV-Medikamenten konsequent vorbeugen. Dies ist die zentrale Botschaft eines offenen Briefes an Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach von vier führenden Organisationen aus dem HIV-Bereich: der Deutschen AIDS-Gesellschaft (DAIG), der Deutschen Arbeitsgemeinschaft ambulant tätiger Ärztinnen und Ärzte für Infektionskrankheiten und HIV-Medizin (dagnä), der Deutschen Arbeitsgemeinschaft HIV- und Hepatitis-kompetenter Apotheken (DAHKA) sowie der Deutschen Aidshilfe (DAH).
Offener Brief mit konkreten Forderungen
In dem Brief stellen die Fachorganisationen konkrete Forderungen auf, um die Versorgung mit Medikamenten in Deutschland weniger störanfällig zu machen:
- Die Produktion unverzichtbarer Arzneimittel muss in Zukunft wieder verstärkt in Europa stattfinden. Die Politik muss entsprechende Möglichkeiten und Anreize schaffen.
- Der Konzentration auf wenige Hersteller gilt es entgegenzuwirken. Welche Rolle hier Preis- und Rabattierungsmechanismen im deutschen Gesundheitssystem spielen, muss überprüft werden, um schädlichen Effekten gegebenenfalls entgegenwirken zu können.
- Lieferengpässe müssen mit geeigneten Meldeverfahren und Warnsystemen früher festgestellt und öffentlich nachvollziehbar werden, damit die zuständigen Stellen schnell darauf reagieren.
- Finanzielle Risiken und Nachteile, die Ärzt*innen, Apotheken durch Lieferengpässe bisher entstehen können, müssen verhindert oder verlässlich ausgeglichen werden.
Ausfall über mehrere Monate
Der Anlass für diesen offenen Brief: Über Monate war in Deutschland das Medikament mit den Wirkstoffen Emtricitabin/Tenofovirdisoproxil nicht erhältlich. Es ist das einzige HIV-Präparat, das als medikamentöse Prophylaxe zugelassen ist, Tausende Menschen verloren so zeitweilig ihren Schutz vor HIV. Auch in der HIV-Therapie spielt das Medikament eine wichtige Rolle.
Nach einem ersten Ausfall bei einem Anbieter und Warnungen der medizinischen Fachorganisationen im Oktober beziehungsweise November letzten Jahres dauerte es Monate, bis das Bundesgesundheitsministerium Ende Januar offiziell einen Versorgungsmangel feststellte.
Mittlerweile gab es zwar einige Lieferungen des Medikaments, von einer verlässlichen Verfügbarkeit kann aber noch lange nicht die Rede sein.
Politik muss Vertrauen zurückgewinnen
„Die zuverlässige Versorgung mit antiretroviral wirksamen Medikamenten von Menschen mit HIV-Infektion muss durch unser Gesundheitssystem sichergestellt sein, ebenso wie die medikamentöse Präexpositionsprophylaxe gegen HIV-Infektionen, sagt Prof. Dr. Stefan Esser, Präsident der Deutschen AIDS-Gesellschaft.
„Dass ein lebenswichtiges HIV-Medikament über längere Zeit nicht mehr lieferbar ist, darf sich nicht wiederholen. Die Prävention hat Schaden genommen, viele Menschen wurden verunsichert und Risiken ausgesetzt. Jetzt muss die Politik die Versorgung langfristig sichern und Vertrauen zurückgewinnen“, erklärt Sylvia Urban vom Vorstand der Deutschen Aidshilfe.
„Es ist unverständlich, dass die Politik trotz unserer Aufforderung zunächst nicht reagierte, obwohl wir explizit auf die Gefahr ansteigender HIV-Neuinfektionen hingewiesen haben“, meint Dr. Heiko Karcher, Vorstandsmitglied der dagnä, mit Blick auf die Warnungen im November. „Ein deutlich schnelleres und lösungsorientierteres Vorgehen wäre hier nötig gewesen“.
Erik Tenberken, Vorstand der DAHKA, betont: „Pharmafirmen dürfen nicht den Anschein erwecken, lieferfähig zu sein, wenn sie es in Wirklichkeit nicht sind. Es braucht klare Definitionen der Lieferfähigkeit und Kontrollen. Die sichere Versorgung der Patienten muss an erster Stelle stehen, nicht die wirtschaftlichen Interessen der Hersteller.“
Offener Brief an den Bundesgesundheitsminister: Versorgung mit HIV-Medikamenten sicherstellen!
”Mangel an HIV-Medikamenten: Es ist schlimmer als wir zu fürchten gewagt haben” (Pressemitteilung vom 16.1.2024)