Stuttgart – Der medizinische Fortschritt und die Individualisierung von Therapien geben vielen Menschen Grund zur Hoffnung. Doch die Preisgestaltung einiger Unternehmen im Arzneimittelmarkt hat mit dem Hepatitis-C-Präparat Sovaldi – bekannt als „700-Euro-Pille“ – eine neue Dimension erreicht. Die Kosten für eine 12- bis 24-wöchige Jahrestherapie belaufen sich auf bis zu 120.000 Euro pro Patient. „Es kann nicht sein, dass pharmazeutische Unternehmen mit einer nicht nachvollziehbaren Preispolitik das Gesundheitssystem ausbeuten und damit seine Stabilität und Leistungsfähigkeit gefährden“, so Dr. Christopher Hermann, Vorstandschef der AOK Baden-Württemberg, im Rahmen der Veranstaltung „AOK Baden-Württemberg im Dialog – Arzneimittelmarkt aus dem Gleichgewicht? Wer sorgt für Balance?“ gestern Abend in Stuttgart. Es gehe nicht um die Frage des Nutzens eines Arzneimittels allein – auch bei Medikamenten, die einen Mehrnutzen bringen, muss die Finanzierbarkeit für die Versichertengemeinschaft erhalten bleiben. Sovaldi sei hier nur der Anfang einer neuen Welle von hochpreisigen Medikamenten. Um so notwendiger sei es, mehr Transparenz und Struktur im Arzneimittelmarkt zu schaffen.
„Wir werden auch künftig allen unseren Versicherten eine bestmögliche Arzneimittelversorgung bieten. Aber nicht zu Mondpreisen“, betont Hermann. Ein angemessener Preis wäge die Interessen der Hersteller und die der Solidargemeinschaft ab und versuche ein Gleichgewicht herzustellen. Eine Entscheidung über angemessene Arzneimittelpreise sei dann möglich, wenn die tatsächlichen Forschungs- und Entwicklungskosten offengelegt werden. Es sei nicht zu erwarten, dass die Preise in naher Zukunft durch Konkurrenz weiterer Arzneimittel in diesem Indikationsgebiet, noch durch die zentralen Erstattungsverhandlungen erfolgreich reguliert werden.
Deshalb fordert AOK-Chef Hermann eine Nachbesserung des AMNOG (Arzneimittelneuordnungsgesetz) von 2011, damit eine Preisanpassung ab dem ersten Tag der Zulassung für ein neues Medikament möglich ist – derzeit kann der Hersteller nach eigenem Belieben jeden Preis festsetzen, bis nach einem Jahr ein Erstattungspreis mit dem Hersteller vereinbart ist. Insbesondere müsse der nachgewiesene therapeutische Nutzen im Zusammenhang mit der Schwere der Erkrankung bei der Preisfindung maßgeblich sein. Darüber hinaus könnten mehr Entscheidungsautonomie für Krankenkassen vor Ort und die Möglichkeit dezentraler Verhandlungen bewirken, eine wirtschaftlichere Versorgung bei innovativen Medikamenten zu erreichen. Gerade in dem nicht seltenen Fall, dass nur für einen Teil der Anwendungsgebiete Anhaltspunkte für einen Therapievorteil bestehen, ist der gezielte Einsatz des neuen Medikaments für genau diese Patienten erforderlich. „Im Gegensatz zu zentralen Einheitsverhandlúngen in Berlin, können die Kassen regional das im Schulterschluss mit den Ärzten erreichen“, so Hermann.
In diesem Zusammenhang fordert Hermann auch die Abschaffung der Reimportquote: „Die Wirkungen aus der planwirtschaftlichen Subventionsregelung zugunsten einer Anbietergruppe laufen im Promillebereich an den jährlichen Gesamtausgaben der AOK Baden-Württemberg für Arzneimittel.“ Zudem gelangten in letzter Zeit immer wieder Fälschungen durch Reimporte in Umlauf. Die Arzneimittelsicherheit für Patientinnen und Patienten sei wichtiger als eine marginale Einsparung. Auch haben sich die Rabattverträge längst als wirksames Instrument der Ausgabensteuerung etabliert. Unter Federführung der AOK Baden-Württemberg konnte allein 2013 für das AOK-System bei patentfreien Arzneimitteln mehr als eine Milliarde Euro eingespart werden.
Seitens der Ärzteschaft kritisiert Prof. Dr. Wolf Dieter Ludwig, Vorstandsvorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, die unseriöse Preispolitik der Arzneimittelhersteller: „Kosten für Forschung und Entwicklung, einschließlich klinischer Studien vor der Zulassung, rechtfertigen in den meisten Fällen nicht den Preis für neue Wirkstoffe. In der Onkologie beispielsweise werden nur selten überzeugende therapeutische Erfolge durch neue Arzneimittel erzielt.“ Aussagen über die langfristige Sicherheit und Wirksamkeit bei neuen Arzneimitteln zum Zeitpunkt der Zulassung seien schwierig und erforderten deshalb auf jeden Fall weitere Erkenntnisse aus klinischen Studien nach der Zulassung.