Berlin – Für einen stärkeren Einbezug der Bedürfnisse und Perspektiven von Patienten in der Diabetes-Therapie haben sich Experten ausgesprochen. Sie sehen darin einen entscheidenden Schlüssel, die künftigen Herausforderungen bei der Versorgung der Volkskrankheit zu bewältigen. Orientierung an Patientenpräferenzen könne helfen, geeignete Arzneimitteltherapien zu finden sowie wirksame Versorgungs- und Präventionskonzepte zu entwickeln. So lautet das Fazit des 5. Nationalen Workshops „Diabetes im Dialog“ am Berliner IGES Institut, an dem rund 80 Gesundheits-Experten teilnahmen.
„Patientenzentrierung kann die Versorgung effektiver und effizienter machen“, erläuterte Prof. Axel Mühlbacher, Leiter des Instituts Gesundheitsökonomie und Medizinmanagement in Neubrandenburg. Brauchbare Methoden, Patientenpräferenzen beim Abwägen von Nutzen und Schaden einer Diabetes-Therapie zu ermitteln, ständen bereit. “Wir investieren Millionen in die klinische Erforschung von Arzneimitteln, aber wir investieren kaum, um zu erfahren, wie Patienten Therapien gewichten.”
Evidenzdruck versus therapeutische Vielfalt
„Patientenbedürfnisse spielen leider in der gesundheitspolitischen Diskussion keine Rolle“, sagte Prof. Stephan Jacob, niedergelassener Diabetologe aus Villingen-Schwenningen. So seien die Empfehlungen, vorrangig mit „alten Medikamenten“ wie den Sulfonylharnstoffen zu therapieren, zu hinterfragen, da diese relativ schnell in der Wirkung nachließen. „Kurzfristig billiger zu therapieren kann durch einen schnelleren Wirkverlust und einen früheren Übergang zur Insulintherapie später deutlich teurer werden. Dies wird bei der Bewertung neuer Antidiabetika häufig nicht berücksichtigt.“
Patientenzentrierung bedeute auch, die jeweiligen Nutzen- und Risikoprofile von Antidiabetika für einzelne Patientengruppen zu beachten, sagte Dr. Michael Krekler, Medizinischer Direktor Herzkreislauf und Stoffwechselerkrankungen bei Bristol-Myers Squibb. So habe sich gezeigt, dass sich das Herzinfarkt- und Schlaganfallrisiko trotz guter Blutzuckereinstellung bei Menschen mit bereits bestehenden Gefäßerkrankungen durch bestimmte Arzneimittel, etwa Sulfonylharnstoffe, nicht senken lasse. „Neben den bekannten Endpunkten wie die Vermeidung von Folgeerkrankungen ist auch die patientenbezogene Sicherheit bei der Nutzenbewertung von Antidiabetika wichtig.“
Im Sinne der Patienten sei es, eine möglichst große Vielfalt an Möglichkeiten zur medikamentösen Therapieoptimierung zu haben, betonte Hans-Holger Bleß, Leiter des Bereichs Versorgungsforschung am IGES Institut. Doch unter den derzeitigen Bedingungen der frühen Nutzenbewertung sei absehbar, dass bereits etablierte Wirkstoffgruppen als Therapiealternative wegfallen können. „Die frühe Nutzenbewertung kennt keine Güterabwägung zwischen bestmöglicher Evidenz und Wunsch nach neuen Therapieoptionen, weil sie falsch positive Beschlüsse vermeiden will.“ Sie müsse in Analogie zu den Zulassungsbehörden Wege finden, mit Indikationen umzugehen, bei denen die gewünschte Evidenz zum Zeitpunkt der Zulassung noch nicht vorliegen kann.
„Die frühe Nutzenbewertung wirkt nicht als Innovationsbremse, sondern fördert die intensive Diskussion um offene wissenschaftliche Fragen und Werte“, sagte Thomas Müller, Leiter der Abteilung Arzneimittel des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA). Ihre Ergebnisse seien zudem international vergleichbar. Er betonte aber auch, dass die Nutzenbewertung ein lernendes System sei.
Bisher sind laut Müller in der Indikation Diabetes neun Bewertungsverfahren abgeschlossen, sechs davon mit neuen Wirkstoffen. Zwei dieser neuen Substanzen haben einen positiven Zusatznutzen anerkannt bekommen, wobei die Beschlüsse wegen fehlender Langzeitdaten auf zwei Jahre befristet sind.
Nutzennachweis neuer Versorgungskonzepte
Bei keiner anderen Krankheit habe es einen derartigen Wandel hin zu einem umfassenden und differenzierten Management gegeben wie beim Diabetes, betonte Benjamin Westerhoff, Leiter der Versorgungsprogramme bei der BARMER GEK. Das Ergebnis sei eine gute bis sehr gute Versorgung eines Großteils der Betroffenen. „Eine weitere Individualisierung der Diabetes-Versorgung erfordert eine hohe Zielgenauigkeit bei der Auswahl der Patienten und Maßnahmen. Die Konzepte zur Erfolgsmessung etwaiger Versorgungsmaßnahmen müssen dabei wissenschaftlichen Ansprüchen genügen.“
Zu einer kontinuierlichen Verbesserung der Versorgung hätten auch die vor zehn Jahren eingeführten Disease Management Programme (DMP) beigetragen, sagte Christian Traupe, Leiter des Bereichs Versorgung, Strategie Programme der AOK Nordost. „Die festgelegten Qualitätsziele nehmen alle in die Pflicht, Patienten, Ärzte und Kostenträger.“ Für die Zukunft gelte es, die DMP weiter zu stärken sowie spezielle „add-on-Programme“ über Selektivverträge und die integrierte Versorgung zu ergänzen.
Kampf dem Diabetes als gesamtgesellschaftliche Aufgabe
Auf die gesamtgesellschaftliche Aufgabe vor allem bei der Prävention, um den Diabetes zurückzudrängen, verwiesen Vertreter von Fach- und Patientenverbänden. „Das bisherige Scheitern eines Präventionsgesetzes ist kein Rückschlag, zumal es ohnehin nur ein Feigenblatt gewesen wäre. In der neuen Legislaturperiode muss endlich über eine ernsthafte Strategie nachgedacht werden, die eine bevölkerungsweite Verhältnisprävention in den Mittelpunkt rückt“, so der Geschäftsführer der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG), Dr. Dietrich Garlichs.
Die Geschäftsführerin von diabetesDE – Deutsche Diabetes-Hilfe, Nicole Mattig-Fabian, forderte von der neuen Regierung, zeitnah einen Nationalen Diabetes Plan zu etablieren, der eine bestmögliche Versorgung sichere, einen gesunden Lebensstil fördere sowie die Selbsthilfe stärke. „Es ist eine Schande, dass Deutschland angesichts einer steigenden Prävalenz von Diabetes noch über keinen Nationalen Diabetes Plan verfügt, während 17 von 27 europäischen Ländern diesen bereits umgesetzt haben.“
Das IGES Institut initiiert regelmäßig Fachtagungen zu aktuellen Fragen der Gesundheitsversorgung. Der 5. Nationale Workshop Diabetes-Versorgung wurde gemeinsam mit den Unternehmen AstraZeneca und Bristol-Myers Squibb veranstaltet und fand in Kooperation mit diabetesDE – Deutsche Diabetes-Hilfe statt.
Über das IGES Institut: Forschen – Entwickeln – Beraten für Infrastruktur und Gesundheit
Das IGES Institut wurde 1980 als unabhängiges Institut gegründet. Seither wurde in über 1.000 Projekten zu Fragen des Zugangs zur Versorgung, ihrer Qualität, der Finanzierung sowie der Gestaltung des Wettbewerbs im Bereich der Gesundheit gearbeitet. In jüngerer Zeit wurde das Spektrum auf weitere Gebiete der öffentlichen Daseinsvorsorge ausgeweitet: Mobilität und Bildung. Das IGES Institut gründet seine Arbeit auf hohe Sach- und Methodenkompetenz und bietet in allen Arbeitsgebieten einen breiten Zugang zu eigenen und zu Datenquellen anderer Institutionen. Gemeinsam mit den Unternehmen CSG und IMC (beide Berlin) sowie HealthEcon (Basel) beschäftigt die IGES Gruppe mehr als 120 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.